Die Anzahl irregulärer Migrant_innen und die politischen Maßnahmen variieren stark zwischen den europäischen Ländern. Das zeigt das kürzlich abgeschlossene EU-Horizon-Projekt „Measuring Irregular Migration“ (MIrreM), koordiniert von Ass.-Prof. Dr. Albert Kraler, Migrationsforscher an der Universität für Weiterbildung Krems. Im Interview erklärt er, wie viele Menschen ohne regulären Status in Europa leben, welche Strategien die Staaten verfolgen und welche Auswirkungen das auf Gesellschaft und Wirtschaft hat.
Interview: Roman Tronner
Herr Kraler, das Thema irreguläre Migration polarisiert und wird vielfach mit unrechtmäßigem Grenzübertritt in Verbindung gebracht. Wie definiert die Wissenschaft irreguläre Migration?
Zunächst ist wichtig zu unterscheiden: Geht es um irreguläre Mobilität– also die Überschreitung einer oder mehrerer Grenzen ohne die dafür erforderlichen Voraussetzungen wie Visa oder gültige Ausweisdokumente) oder um den längeren Aufenthalt von Migrant_innen ohne Aufenthaltsrecht. Ein irregulärer Grenzübertritt bedeutet nicht, dass Migrant_innen später ohne Aufenthaltsrecht sind. Da es kaum legale Zugangswege für Geflüchtete gibt, sind viele beispielsweise gezwungen, irreguläre Wege zu nehmen. Eine Studie zeigt: Zwischen 2009 und 2021 wurden mehr als 55 Prozent der an den EU-Außengrenzen aufgegriffenen irregulären Migrant_innen später als Flüchtlinge anerkannt.
Irreguläre Migrant_innen sind Menschen ohne Aufenthaltsrecht in dem Land, in dem sie leben. Gründe sind restriktive Einwanderungs- und Aufenthaltsgesetze, die den Lebensrealitäten nicht ausreichend Rechnung tragen und es erschweren oder gar verunmöglichen auf legale Weise einzureisen oder einen Aufenthaltstitel zu erhalten. Zudem hatten viele unrechtmäßig aufhältige Menschen zuvor Aufenthaltsgenehmigungen, die an Beschäftigung, Studium, Familie oder internationalen Schutz gebunden waren und die sie aus unterschiedlichen Gründen verloren hatten. Andere sind legal über Touristenvisen oder im Rahmen einer visumsfrei eingereist. Auch können Kinder in die Irregularität „hineingeboren“ werden, wenn ihre Eltern kein Aufenthaltsrecht besitzen.
Zur Irregularität kann also vieles führen: Neben der irregulären Zuwanderung, der in der medialen Berichterstattung die Hauptaufmerksamkeit gilt und mit Bildern und Berichten von Schiffbrüchen, dramatischen Rettungsaktionen und Kontroversen über die Aufnahme von Geretteten häufig verbunden ist, sind nicht selten regulatorische Defizite ausschlaggebend.
Auf EU-Ebene gelten nur Drittstaatsangehörige ohne Aufenthaltsrecht als Teil der irregulär aufhältigen Bevölkerung. Tatsächlich können aber auch EU-Bürger_innen ihr Aufenthaltsrecht im Rahmen der Freizügigkeit verlieren, etwa wenn sie noch nicht lange genug in einem anderen EU-Staat aufhältig waren und mittellos sind, oder aufgrund von Straffälligkeit. Eine relevante Kategorie stellen auch Migrant_innen mit einem vorübergehendem Aufenthaltsrecht dar. Dazu zählen etwa Asylsuchende, über deren Bleiberecht noch entschieden wird, aber auch Personen ohne Aufenthaltsrecht, die angewiesen worden sind auszureisen, deren Ausweisung aber vorübergehend ausgesetzt worden ist. Die Aussetzung der „Ausreisepflicht“ heißt nicht, dass ein Bleiberecht besteht. In Deutschland und Österreich gibt es eine eigenen Begriff für diesen Rechtsstatus, die „Duldung“, wobei freilich große Unterschiede in der Konzeption der Duldung zwischen Österreich und Deutschland bestehen.
Das MIRREM -Projekt ist ja angetreten, verlässlichere Zahlen zum Ausmaß der irregulären Migration in Europa zu erhalten. Ist das gelungen, wie sind sie da vorgegangen?
Ja, allerdings beruhen die Schätzungen auf sehr unterschiedlichen Methoden – und meist auf indirekten Methoden, also Methoden die nicht darauf auf direkten Befragungen beruhen, in denen die Befragten Angaben über ihren Aufenthaltsstatus machen. Die Unterschiedlichkeit der Schätzmethoden erschwert natürlich die Vergleichbarkeit. Von fünf der insgesamt 20 von MIrreM genauen beleuchteten Ländern existieren überhaupt keine Schätzungen. Das Forschungsprojekt MIrreM hat die verschiedenen vorhandenen Schätzungen aus 13 europäischen Ländern sowie den Vereinigten Staaten und Kanada zusammengetragen, deren Qualität bewertet um ein klareres Bild von dem Umfang der irregulären Migration zu erhalten. Außerdem hat es in einem anderen Teilprojekt, neue Schätzmethoden entwickelt, wovon eine auf sozialer Mediennutzung beruhende Methode Schätzungen zu zahlreichen Ländern weltweit liefert und derzeit in Kooperation mit Eurostat weiter ausgearbeitet wird.
Wie viele irreguläre Migrant_innen gibt es demnach in Europa derzeit?
Schätzungen zufolge liegt der Anteil irregulärer Migranten in diesen europäischen Ländern bei weniger als 1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wir haben im Projekt eine interaktive Landkarte entwickelt, die für jedes europäische Land die Zahlen ausweist. Mit einem Klick werden die letztverfügbaren Zahlen sichtbar. In Österreich wird die Zahl „irregulärer Migrant_innen“ regelmäßig für die Zwecke der Bevölkerungsstatistik geschätzt. Für das Jahr 2022 weist diese Schätzung 62.000 irreguläre Migrant_innen als mittleren Wert aus. Das sind 0,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wichtig zu beachten ist aber, dass diese Zahl auch nichtgemeldet EU Bürger_innen enthält. Rechnet man diese Gruppe heraus, so liegt die Zahl der irregulär aufhältigen Migrant_innen nach dieser Schätzung bei rund 43.600 Personen, eine Größenordnung, die auch von einer im Rahmen des Projekts entwickelten, auf sozialen Medien beruhenden Schätzmethode gestützt wird. Unsere Untersuchungen zeigen weiters, dass seit 2008 die Anzahl an irregulären Migrant_innen und ihr Anteil an der Bevölkerung in drei Ländern – Österreich, Deutschland und Spanien – gestiegen ist. In fünf Ländern ist die geschätzte Zahl der irregulären Migrant_innen gleichgeblieben: Belgien, Frankreich, Italien, dem Vereinigten Königreich und den USA. Rückläufig waren die Zahlen in Finnland, Griechenland, Irland, den Niederlanden und Polen. Insgesamt gesehen lässt sich keine eindeutige Veränderung der Zahl und des Anteils der irregulären Migrantenbevölkerung in Europa seit 2008 erkennen – entgegen der öffentlichen Darstellung eines kontinuierlichen Anstiegs der irregulären Migration.
Das Forschungsprojekt hat sich auch mit den politischen Maßnahmen im Umgang mit der irregulären Migration beschäftigt? Was spricht für Regularisierungsmaßnahmen wie sie etwa Spanien oder Irland umgesetzt haben?
Der Aufenthalt wird dadurch legal und damit für Behörden erfassbar. Das erleichtert die Integration und reduziert soziale Risiken (wie etwa eine mögliche Ausbeutung durch Arbeitgeber). Auch der Arbeitsmarkt profitiert, weil das Arbeitskräftepotenzial sichtbar und steuerbar wird. Politisch wird oft befürchtet, Regularisierung könne als Pull-Faktor wirken. Die Forschung zeigt jedoch: Migration wird vor allem durch wirtschaftliche Bedingungen und soziale Netzwerke bestimmt – nicht von der Verfügbarkeit von Regularisierungsmaßnahmen.
Welche Formen von Regularisierung gibt es?
Wir verstehen Regularisierung als offiziellen, staatlich definierten Prozess, der Personen, ohne Aufenthaltsrecht zeitlich befristet oder langfristig einen legalen Status gewährt Es gibt in Europa eine große Vielfalt an unterschiedlich ausgestalteten Regularisierungsmaßnahmen: einerseits zeitlich begrenzte Programme, andererseits langfristige Mechanismen. Wir haben die weiteren Ergebnisse unserer Forschung in unserem Handbuch „Handbook on Regularisation Policies“ zusammengefasst.
Welche Form von Regularisierung empfehlen Sie Staaten aus Sicht ihrer Forschung?
Je nach Situation können beide Formen zielführend sein: Befristete Regularisierungsprogramme können auf bestimmte Situationen reagieren. Das 2022 eingeführte deutsche Chancen-Aufenthaltsrecht (Anträge können bis Ende 2025 eingereicht werden) sieht eine befristete Aufenthaltsgenehmigung von 18 Monaten für Personen vor, die seit mindestens fünf Jahren eine Duldung haben (deren Abschiebungsbescheid also vorübergehend ausgesetzt ist), und die bestimmte Integrationsauflagen, wie Beschäftigung und Spracherwerb, erfüllen.
„Regularisierungsmechanismen“ schaffen dauerhaft Wege aus der Irregularität hinaus. Der permanente „Arraigo”-Mechanismus in Spanien (erstmals 2004 eingeführt und anschließend erweitert) bietet mehrere alternative Möglichkeiten zur Regularisierung auf der Grundlage sozialer, beschäftigungsbezogener, familiärer oderbildungsbezogener Kriterien.
Migrationspolitik liegt weitgehend im Kompetenzbereich der EU-Mitgliedsstaaten. Wohl ein wesentlicher Grund für die Uneinheitlichkeit. Hat die EU überhaupt keine Möglichkeiten in der Regularisierung lenkend zu wirken?
Obwohl die EU keine direkte Zuständigkeit für die nationale Einwanderungsgesetze hat, beeinflussen ihre Institutionen die nationalen Entscheidungen dennoch durch Koordinierung, rechtliche Rahmenbedingungen und auch den politischen Diskurs.
Ein zentraler Rechtsakt ist die Rückführungsrichtlinie von 2008 – ein Vorschlag für eine Rückführungsverordnung ist derzeit gerade in Verhandlung. Sie erlaubt es den Mitgliedstaaten, Aufenthaltsgenehmigungen zu erteilen (Art. 6 Abs. 4).
Weiters wichtig sind Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) oder des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Alle EU-Mitgliedsstaaten, aber auch die Europäische Union als solche sind Vertragspartei der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EKMR) und deshalb an Urteile des EGMR gebunden. Urteile beider Gerichtshöfe haben in der Vergangenheit Staaten verpflichtet, in bestimmten Fällen aufgrund menschenrechtlicher, aber auch unionsrechtlicher Regeln Aufenthaltsrechte zu gewähren oder von einer Abschiebung abzusehen.
Welche Erkenntnisse gab es im Projekt zur Rückkehr von Migrant_innen ohne Aufenthaltsrecht in die Ursprungsländer?
Die Rückführung von irregulären Migrant_innen stand nicht im Fokus des Projekts. Allerdings haben wir uns sowohl im Zusammenhang mit Bleiberechtsfragen als auch im Zusammenhang mit statistischen und Schätzungen zu irregulärer Migration mit dem Themenbereich auseinandergesetzt. So ist etwa die Behauptung, dass nur 20 Prozent der Rückführungsentscheidungen umgesetzt werden, im politischen Diskurs auf EU- und nationaler Ebene weit verbreitet. Die Berechnung der Rückführungsquote als Verhältnis zwischen Rückführungsentscheidungen und bestätigten Rückführungen in einem bestimmten Jahr ist jedoch äußerst fehlerhaft und potenziell irreführend. So kann ein und dieselbe Person mehrere Rückkehrentscheidungen im selben Land haben. Ebenso werden Rückkehrentscheidungen in unterschiedlichen Ländern bezüglich derselben Personen getrennt gezählt, also wenn etwa eine Person, die in Österreich eine Rückkehrentscheidung erhalten hat, nach Deutschland geht und dort erneut eine Rückkehrentscheidung bekommt. Im Grunde geht es um dasselbe Verfahren, das aber zwei Mal gezählt wird. Ein anderer Aspekt ist auch, dass es keine systematische EU-weite Erfassung darüber gibt, wie viele zwangsweise Rückführungen nach Erlass einer „Rückführungsentscheidung” (Ausreiseverpflichtung) durchgeführt werden.
Meine Vermutung ist, dass die Umsetzungsrate stark unterschätzt wird, aber letztlich wissen wir es nicht.
Ein interessantes Ergebnis dazu: Die Durchsetzung der Rückkehr und die Regularisierung werden oft als gegensätzliche Optionen verstanden. In Wirklichkeit finden diese beiden Wege aus der Illegalität jedoch zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt. Eine aktuelle Studie[i] zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Beendigung eines irregulären Aufenthalts durch Rückkehr innerhalb der ersten zwei Jahre nach Inkrafttreten der Ausreisepflicht am höchsten ist. Nach diesem Zeitraum bleibt die Wahrscheinlichkeit einer freiwilligen Ausreise nahezu unverändert steigt nur minimal an und belässt Regularisierung als einzigen gangbaren Weg aus der Illegalität.
Wie haben Sie die Ergebnisse für die breite Bevölkerung und die Politik zugänglich gemacht?
Neben der erwähnten interaktive Landkarte zur irregulärer Migration haben wir Kurzvideos für YouTube produziert. Und für die Politik und Expert_innen haben wir die Ergebnisse in Form von Handbüchern veröffentlicht, dem bereits erwähnten Handbuch zu Regularisierungspolitiken sowie einem Handbuch zu Daten zu irregulärer Migration veröffentlicht, das unter anderem wichtige Konzepte und methodische Fragen anhand von praktischen Beispiele darstellt.
Was ist für Sie die zentrale Erkenntnis aus dem Forschungsprojekt?
Regularisierung hat sich als geeignetes Mittel erwiesen, um Menschen gesteuert und anhand bestimmter Kriterien einen regulären Aufenthaltsstatus zu ermöglichen. Es zeigt sich, dass das konkrete Design und ein langfristiges Monitoring dabei essentiell sind so können zu hohe unbürokratische Auflagen, oder kaum zu erfüllende Kriterien dazu führen, dass das Ziel verfehlt wird. Die Politik muss erkennen, dass formale Anspruchsberechtigung nicht automatisch zu wirksamem Maßnahmen führt – zukunftsweisend sind vereinfachte Verfahren, _innen, sowie Ausgewogenheit zwischen fallbezogenen Ermessensentscheidungen und klaren Anspruchsregeln. Die Politik kann von den unterschiedlichen regionalen Praktiken lernen, wie dem menschenrechtsbasierten Zugang in Lateinamerika oder den integrationsbezogenen Ansätzen in Europa, um flexible und dennoch kohärente Rahmenbedingungen zu entwickeln.
Zum Projekt:
Das im EU-Programm Horizon geförderte Forschungsprojekt „Measuring Irregular Migration“, kurz MIrreM , erforschte von 2022 bis September 2025 Ausmaß und Charakteristika von irregulärer Migration in insgesamt 20 Ländern in Europa, Nordafrika und Nordamerika, innovativen Methoden sowie politischen Antworten auf Irregulärität, einschließlich der Regularisierung von irregulären Migrant_innen. Das Projektkonsortium umfasste insgesamt 18 Partner und wurde vom Department für Migration und Globalisierung der Universität für Weiterbildung Krems koordiniert.
[i] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Kurzanalysen/kurzanalyse1-2023-mimap.html?nn=282388
Rückfragen
Tags