07.04.2022

Am 23. März 2022 fand an der Universität für Weiterbildung Krems im Onlineformat der „Faculty Talk: Transnationale Identitäten und Zugehörigkeiten“ unter Leitung und Moderation von Mathias Czaika statt. Vedran Džihić, Cengiz Günay und Ludger Pries analysierten die gegenwartspolitisch bedeutsame Frage, wie sich migrantische Identitäten konstituieren, und erörterten das Potential dieser transnationalen Identitäten für die Kultivierung demokratischer Strukturen.

Wie gehen wir mit der Herausforderung einer zunehmend diversifizierten Gesellschaft um, deren Vielfalt sich nicht zuletzt durch eine hohe Zahl von Menschen mit Migrationserfahrung auszeichnet? Eine gesellschaftliche Entwicklung, die aktuell – aufgrund von Flucht vor Krieg innerhalb Europas – von hoher politischer Relevanz ist. Wie lässt sich das Potential eines solchen nationalen Pluralismus demokratiepolitisch nutzen und welche besondere Rolle kommt dabei transnationalen Identitäten zu? Diesen Fragestellungen widmete sich am Mittwoch, 23. März 2022, der von der Universität für Weiterbildung Krems veranstaltete Faculty Talk zum Thema „Transnationale Identitäten und Zugehörigkeiten“.

Migrant_innen als eigenständige Akteur_innen

In seiner Einleitung zum Faculty Talk erläuterte der Gastgeber, Univ.-Prof. Dr. Mathias Czaika, Leiter des Departments für Migration und Globalisierung, Bedeutung und historische Wurzeln des Begriffs der Transnationalität. Mit ihrem Konzept des Transnationalismus habe die Anthropologin Univ.-Prof. Nina Glick Schiller, PhD 1992 einen Paradigmenwechsel innerhalb der Migrationsforschung angestoßen. Das Hauptaugenmerk der transnationalen Perspektive gilt den stetigen Wechselwirkungen von Migrant_innen als eigenständige Akteur_innen mit politischen, sozialen und sozioökonomischen Phänomenen, die vom Herkunfts- wie auch vom Aufnahmeland ausgehen können. Transnationalismus erweise sich als hybride Alternative zu den Konzepten der Assimilation und Segregation und daher auch bedeutsam für den Bereich der Integration.

Identitäten jenseits eindeutiger Nationalitäten

Univ.-Prof. Dr. Ludger Pries, Ruhr-Universität Bochum, erklärte in seiner Keynote „Konzepte und Politiken der Konstruktion nationaler und transnationaler Zugehörigkeiten“, wie Identitäten – also Gruppenzugehörigkeiten im weitesten Sinne – entstünden und welche Rolle dabei der besondere Typus transnationaler Identitäten spiele. Dabei sei Transnationalität lediglich ein Identitätsbaustein von vielen. Dazu gehören die soziale Klassenzugehörigkeit, Geschlechtlichkeit, Ethnizität, Religion, Sprache und Staatsbürgerschaft, so Pries. Allein durch Ausdifferenzierung dieser Merkmale entstehen mehrere Milliarden an Kombinationsmöglichkeiten.

Wie aber kann angesichts dieser Vielfalt dennoch eine (Selbst-)Zuordnung zu bestimmten Gruppen gedacht werden? Pries schlug dafür die Unterscheidung eines geografischen sowie eines sozialen Raumes von Identitäten vor. So lassen sich Merkmale zu komplexen Merkmalsgruppen vereinheitlichen. Hier finde nun auch die transnationale Identität ihren Platz. Sie sei nicht eindeutig dem Herkunfts- oder Ankunftsland zuordenbar, im Gegensatz zur Diaspora-Identität mit ihrem starken Lokalitätsbezug. Das Konzept transnationaler Identitäten erlaube es, Identitätskonstruktionen nicht ausschließlich nationalistisch zu denken, ohne deshalb auf dieses Merkmal komplett verzichten zu müssen, so Pries.

Transnationales politisches Engagement hybrider Identitäten mit Migrationserfahrung

Gerade Art und Beschaffenheit des Zugehörigkeitsgefühls zu politischen Bewegungen und Parteien entpuppte sich im Vortrag von Dr. Cengiz Günay, wissenschaftlicher Leiter des Österreichischen Instituts für internationale Politik (oiip), als entscheidend für migrantisches politisches Engagement. Seine Ausführungen über „Soziale und politische Identitäten und deren transnationale Dimension – das Beispiel türkischer Migrant_innen in Österreich“ bauten auf dem Projekt „Transnationales politisches Engagement der serbischen und türkischen Diaspora“ auf, das zusammen mit Dr. Vedran Džihić durchgeführt wurde.

Günay arbeitete eine hohe Konvergenz von sozialer und politischer Identität heraus, die nicht mit der Zustimmung zu einer spezifischen Ideologie begründet werden könne. Er verglich das Eintreten für politische Gruppierungen und Parteien mit der emotionalen Verbundenheit mit einem Sport-Team. Ziele seien die Befriedigung des Bedürfnisses nach eindeutiger Gruppenzugehörigkeit sowie den Status dieser Gruppe zu heben. Dies sei bei Migrant_innen besonders stark ausgeprägt. Der damit einhergehende Prozess der der Filterung von Informationen durch die Gruppe führe hier nicht einfach zu einem Import von Konflikten aus dem Herkunftsland in das Ankunftsland. Auf Grundlage transnationaler Erfahrungen würden Konflikte verwandelt und verschmelzt, Diskriminierungserfahrungen zählten dazu. Diese Erfahrungen würden eine übergeordnete migrantische Identität stiften. Hieraus leitete Günay zwei Formen des transnationalen politischen Engagements mit fließenden Übergängen ab: eines, das vorrangig auf das Herkunftsland gerichtet ist und eines, das den Fokus auf die Einwanderungsgesellschaft legt.

Transnationale Identität als sozialer Zwischenraum

Die Aufschlüsselung dieser migrantischen Identitäten setzte Dr. Vedran Džihić, Senior Researcher am oiip, fort. In seinem Vortrag „Muster und Widersprüche der transnationalen Identitäten und Zugehörigkeiten – das Beispiel ex-jugoslawischer MigrantInnen in Österreich“ arbeitete er zunächst vier strukturelle Charakteristika transnationaler Räume heraus, um deren Auswirkung auf migrantische Identitäten offenzulegen.

Als Kern und zugleich erstes Charakteristikum transnationaler Räume bezeichnete Džihić Care-Beziehungen, also den engsten familiären und freundschaftlichen Kreis. Die Kommunikation laufe vor allem über soziale Medien. Charakteristisch sei zudem  eine doppelte Erfahrung von Diskriminierung: sowohl von Seiten des Herkunfts- als auch des Aufnahmelandes. So stelle sich bei Migrant_innen das Gefühl ein, weder hier noch dort ungebrochen heimisch sein zu können. Das vierte und letzte Charakteristikum transnationaler Räume lasse ergebe sich hieraus: Migrant_innen würden sich zugleich überall zu Hause fühlen und doch doppelt fremd. Je nach Klassen- oder Bildungsschichtung dominiere einer dieser Pole: Während besser ausgebildete Migrant_innen eher eine plurale politische Identität entwickeln würden, dominiere bei bildungsferneren Schichten das Gefühl der Ausgeschlossenheit.

Aus dem Wechselspiel zwischen dem Herkunfts- und Aufnahmeland ergeben sich für Džihić transnationale emanzipatorische Demokratiepotentiale als doppelte Chance: Transnationalität könne im Ankunftsland für eine demokratische Erneuerung durch den Zustrom von Debatten und Ideen sorgen. Zugleich sei jedoch denkbar, dass dieses transnationale politische Engagement im Aufnahmeland eine progressive demokratie-politische Veränderung in den Herkunftsländern herbeiführt.

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