Im Bereich der Orthopädie verstärkt die aktuelle Spitalskrise die Ausprägung eines parallelen Gesundheitssystems.

Ein Kommentar von Andreas Leithner

Haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, eine Zusatzversicherung? Wenn ja, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Bereits 2019 waren 3,1 Millionen Österreicher_innen zusatzversichert. Und warum? Freie Arztwahl, Kostenübernahmen gewisser Behandlungen, vor allem aber auch schnellere Termine bzw. kürzere Wartezeiten werden in Umfragen als die wichtigsten Gründe genannt.

Wer schneller zum (Wahl-)Arzt kommt bzw. schneller einen Operationstermin in einem privaten Haus erhält, erspart sich gegebenenfalls Ungewissheit, Schmerzen und bei speziellen Erkrankungen sogar eine Lebenszeitverkürzung. Die Anzahl der Zusatzversicherten und der weiterhin bestehende Trend zum Ausbau privater Leistungen inklusive dem weiter andauernden Anstieg an Wahlärztinnen und -ärzten sind klares Indiz, dass wir uns nicht am Weg in eine Zweiklassengesellschaft befinden, sondern bereits mitten darin sind. Die Probleme dieser Entwicklung – insbesondere die Gefährdung des sozialen Friedens – sind mannigfaltig, werden aber gerne verdrängt.

Der Bereich der Orthopädie steht bei dem Boom der Privatmedizin besonders im Fokus. Zum Glück geht es hier selten um lebensbedrohliche Erkrankungen, doch die Prävalenz orthopädischer Krankheitsbilder ist enorm. Laut einer deutschen, 2007 publizierten Studie hatten 85 Prozent der Befragten zumindest einmal im Leben Kreuzschmerzen. Relevant erscheint, dass jede vierte Frau und jeder sechste Mann angaben, in den letzten 12 Monaten über drei Monate an Kreuzschmerzen gelitten zu haben. Ganz ähnlich waren die Ergebnisse der Österreichischen Gesundheitsbefragung der Statistik Austria 2019 mit 1,9 Millionen Personen mit chronischen Kreuzschmerzen in den letzten zwölf Monaten.

Der Bedarf an orthopädischer Fachexpertise in Diagnose und Therapie (sowie Prävention!) ist daher enorm. Österreichweit wurde die Anzahl an entsprechenden Kassenstellen in den letzten vier Jahren laut Information der Österreichischen Ärztekammer von 252 um 19 Stellen auf 271 erhöht. Immerhin. Gleichzeitig stieg jedoch die Anzahl an Wahlarztstellen von 573 um 190 auf 763!

Dramatisch wird die Situation zunehmend auch im stationären Bereich – die pflege- und teilweise auch anästhesiebedingte Reduktion an Operationskapazitäten in den öffentlichen Spitälern führt im orthopädischen Bereich zu einem wahren „run“ auf die privaten Häuser. Man liest in manchen Medien sogar von Patienten, die Kredite aufnehmen, um sich die notwendigen Operationen als „Selbstzahler“ leisten zu können. Der Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Anbietern in der Wartezeit auf die Implantation einer Knietotalendoprothese beträgt in manchen Bundesländern über ein Jahr!

Das österreichische Gesundheitssystem wird – gerade im orthopädischen Bereich – zunehmend sozial ungerecht. Eine fundierte, öffentliche Diskussion ist daher unbedingt erforderlich.


ANDREAS LEITHNER

Univ.-Prof. Dr. Andreas Leithner ist Tumororthopäde und Klinikvorstand der Universitätsklinik für Orthopädie und Traumatologie des LKH-Univ. Klinikums Graz. Weiters ist er seit 2018 Vizerektor für Klinische Agenden der Medizinischen Universität Graz.

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