Wo die Grenzen der Regeneration liegen, was die Orthopädie gegen Gelenksbeschwerden tun kann und was nicht und welche gesundheitspolitischen Maßnahmen bereits im Kindesalter ansetzen müssten, erörtert der international anerkannte Orthopäde Stefan Nehrer.

Interview: Andreas Aichinger

upgrade: Betroffene von Gelenksarthrosen stehen häufig vor einem Dilemma: Befund und Befindlichkeit, also die bildgebende Diagnostik und das subjektive Schmerzempfinden, klaffen auseinander. Warum ist das eigentlich so?

Stefan Nehrer: Die drei bestimmenden Faktoren des Krankheitsbildes Arthrose sind die Alterung, die Degeneration und die Entzündung, die für die Schmerzen verantwortlich ist. Alterungsprozesse haben einen genetischen Hintergrund, die Degeneration verläuft nicht linear, und vor allem die Entzündungszustände schwanken sehr stark. Die individuelle Ausprägung einer Arthrose ist daher bei jedem Patienten sehr unterschiedlich und auch nicht wirklich prognostizierbar. Wir haben derzeit keine Biomarker dafür, sondern sind für eine Vorausschau auf die diagnostische Bildgebung angewiesen. Besonders vielversprechend ist dabei der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). Eine aktuelle Publikation aus meiner Arbeitsgruppe konnte jetzt belegen, dass die KI-assistierte Radiografie-Diagnostik von Kniearthrosen die Korrelation zwischen Bildgebung und Symptomatik verbessert.

Welche Vorteile hat so eine KI-assistierte Diagnostik für Patient_innen?

Arthrose-Scores (Anm: Einteilung des Schweregrads) nach Kellgren-Lawrence beispielsweise lassen sich mit Hilfe der von uns verwendeten KI-Software exakter, schneller und objektiver erfassen. Wir können damit auch Verlaufsprognosen besser und zu einem sehr frühen Zeitpunkt abschätzen. Da aber die Patient_innen-Compliance auch von der Genauigkeit der Prognose abhängig ist, fällt in der Folge die Motivation für erste Therapieschritte leichter. Es gibt nämlich in der Regel einen Zeitpunkt, an dem ein Gelenk samt Entzündungsparametern „kippt“. Mit Hilfe der KI können wir diesen Punkt früher vorhersehen und gegensteuern.

Was kann in diesem Zusammenhang die Regenerative Medizin leisten, Sie sind ja auch Leiter des gleichnamigen Zentrums an der Universität?

Bleiben wir beim Beispiel der Arthrose, wo sich oftmals schmerzreiche mit schmerzarmen Phasen abwechseln. Es gibt also offenbar Mechanismen im Gelenk, die es wieder ins Gleichgewicht bringen, in eine Homöostase. Die Frage ist, wie wir diesen Zustand aktiv auslösen und beschleunigen können. Und genau hier kann die Anwendung von Blutprodukten Sinn machen, um einen chronischen Entzündungsprozess disruptiv zu verändern und in ein Gleichgewicht überzuführen. Ich bringe also beispielsweise plättchenreiches Plasma (PRP), das aus Eigenblut gewonnen wird, in das dynamische biologische System ein. Und das beruhigt dann den Inflammationsprozess, genau das ist der Ansatz der Regenerativen Medizin.

Stefan Nehrer

„Prävention muss also eine Bewegungsprävention sein, und die nützt gleichermaßen dem Bewegungsapparat wie dem Herz-Kreislauf-System.“

Stefan Nehrer

Bei Knorpelschäden – also etwa Meniskusverletzungen – ist die Sache aber gar nicht so einfach, oder?

Stimmt, es gibt keine Heilungsmechanismen, die Knorpelgewebe auf normalem Weg wiederherstellen können. Man kann aber Knorpelzellen anreichern und einbringen, um den Heilungsprozess bestmöglich zu unterstützen und eine Regeneration zu ermöglichen. Das berühmte Beispiel des Schwanzlurchs Axolotl – der Gliedmaßen und sogar Teile seines Rückenmarks nachwachsen lassen kann – zeigt, wie weit Regeneration prinzipiell gehen kann. Beim Menschen sind allerdings viele der Zellen mit diesem Potenzial in das Nerven- und Immunsystem abgewandert. Wir können aber mesenchymale Stammzellen kultivieren und in großer Menge einbringen, um den Heilungsprozess zu unterstützen. Im Gegensatz zur Vorstellung vor 20 Jahren orchestriert eine Stammzelle die Heilung, aber sie kann sie nicht selbst leisten.

Im Forschungsprojekt Stemsicles gehen Sie ja der Frage nach, ob und wie der Körper die Abnützung von Gelenken tatsächlich selbst heilen kann. Und zwar mit Hilfe von sogenannten extrazellulären Vesikeln.

Ja, genau. Wir isolieren diese extrazellulären Vesikel (EV) aus den „Stammzellisolaten“ eines Fettpolsters im Kniegelenk, das Fernziel wäre eine EV-basierte Therapie zur Knorpelregeneration. Für uns sind diese extrazellulären Vesikel Boten der Heilung. Im Heilungsprozess „sagen“ sie einer anderen Zelle, was diese tun muss, ja sie können sogar die Genexpression der angesprochenen Zelle nachhaltig ändern. Und das erklärt wahrscheinlich, warum Blutprodukte über Jahre hindurch Wirksamkeit zeigen. Wenn ein Gelenk durch eine PRP-Therapie wieder ins Gleichgewicht kommt, kann das oft über Jahre aufrecht bleiben. Wir erforschen, welche Vesikel hier entscheidend sind und wie man sie therapeutisch einsetzen könnte.

Jenseits dieser Zukunftsmusik – welche konservativen Behandlungsoptionen setzen Sie schon heute klinisch ein?

Uns steht eine Kaskade an Behandlungsmethoden zur Verfügung. Die Basis bildet der Lebensstil, vor allem eine Gewichtsreduktion, danach kommen Nahrungsergänzungen und diätische Maßnahmen. Auf der nächsten Ebene gibt es eine gezielte Bewegungstherapie, gefolgt von einer physikalischen Therapie im klassischen Sinn. Die nächste Stufe sind Injektionstherapien mit Hyaluronsäure und Blutprodukten wie eben dem plättchenreichen Plasma (PRP). Wenn die Entzündung ganz schlimm wird, hilft schließlich auch Kortison, allerdings nur für vier bis sechs Wochen. Dabei empfehlen wir, dringend, Kortison mit Hyaluronsäure zu kombinieren und nicht mit Lokalanästhetika, weil das eine ziemlich toxische Kombination ist.

Stichwort Prävention: Welche Art der Bewegung empfehlen Sie mit Blick auf die Knorpelerhaltung?

Zunächst ist die Gewichtsabnahme ganz entscheidend, dieser Aspekt wird wirklich unterschätzt, jedes Kilo zu viel wirkt sich negativ aus. Zu den frühen Therapieformen gehören spezielle Arthrosetherapie-Übungen, die ganz gezielt die entsprechende Muskulatur kräftigen. Als allgemeines Training sind zyklische Bewegungen mit geringen Belastungsspitzen – also etwa Radfahren, Nordic Walking und Schwimmen – sehr gut geeignet. Beim Laufen gibt es im unteren Schrittbereich von maximal fünf Stunden pro Woche auch keinen Arthrose-Zusammenhang, wobei das Gelände allerdings eher flach sein sollte. Zudem sind der richtige Schuh inklusive Fersendämpfung und die richtige Lauftechnik wichtig, viele Überlastungen sind auf Technikfehler zurückzuführen. Wer bereits eine Arthrose hat, soll seine Gelenke trotzdem bewegen, aber natürlich auf gelenkschonende Bewegungen und die Impact-Dämpfung achten. Dämpfungseinlagen oder -schuhe sind oft sehr erfolgreich darin, eine Gelenkserkrankung schmerzarm oder sogar schmerzfrei zu halten.

Vielfach ist ja von einer „Epidemie der Bewegungslosigkeit“ die Rede. Ihre Botschaft?

Generell gibt es keine untere Schwelle für die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen, weshalb wir eher zu mehr „Bewegung“ motivieren und nicht immer von „Sport“ sprechen sollten. Prävention muss also eine Bewegungsprävention sein, und die nützt gleichermaßen dem Bewegungsapparat wie dem Herz-Kreislauf-System. Wir sprechen hier immerhin von der Hardware des Lebens: Wer sich zwischen zwei und fünf Stunden pro Woche bewegt, wird mit einer deutlich verringerten Sterblichkeit belohnt.

Sie sind ja auch Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention. Wenn Sie eine gesundheitspolitische Maßnahme umsetzen könnten…

…wäre das auf jeden Fall die tägliche Turnstunde! Gerade in den Volksschulen brauchen wir die unbedingt. Ich würde aber auch dafür sorgen, dass Vereine Zugang zu verfügbaren Sportstätten – etwa nachmittags in Schulen – bekommen. Gleichzeitig müssen die Vereine selbst zugänglicher werden und auch Nichtmitgliedern Sportmöglichkeiten bieten. Eine weitere Forderung von mir wäre, die Gesundenuntersuchung auch mit einer Sportberatung inklusive Sport tauglichkeits-Check zu verbinden. Als Fachgesellschaft ist unser Ziel eine ganzheitliche Bewegungs-Gesundenuntersuchung. Wir haben in Österreich an die 1.000 Sportärztinnen und -ärzte, sobald die Rahmenbedingungen geschaffen sind, könnte die Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention das schon morgen ausrollen.


STEFAN NEHRER

Univ.-Prof. Dr. Stefan Nehrer, MSc ist Dekan der Fakultät für Gesundheit und Medizin sowie Leiter des Departments für Gesundheitswissenschaften, Medizin und Forschung der Universität für Weiterbildung Krems. Als Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie ist er ein international anerkannter Experte für die Behandlung von Knorpeldefekten und Arthrosen. Zudem leitet er das Zentrum für Regenerative Medizin und ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention.

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