Springen, laufen, hüpfen, klettern – Kinder haben in der Regel einen ausgeprägten Bewegungsdrang. Wenn dieser durch Übergewicht bis hin zur Adipositas eingeschränkt wird, hat das fast immer langfristig negative Folgen.

Von Sabine Fisch

Es ist eine gefährliche Trias, die bei Kindern mit Übergewicht oder Adipositas zu beobachten ist und den Bewegungsmangel weiter fördert. „Es kommt aufgrund des hohen Gewichts gehäuft zu ausgeprägten und schmerzhaften Plattfüßen“, erklärt Catharina Chiari, Fachärztin für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie mit Schwerpunkt Kinderorthopädie. „Als Folge der Belastung, der Knochen und Gelenke ausgesetzt sind, können Beinachsenfehlstellungen dazukommen.“ Nicht zuletzt schränken dicke Oberschenkel die Beweglichkeit des Kindes ein. „Wer unter solchen Beschwerden leidet, hat verständlicherweise wenig Lust, sich ausgiebig zu bewegen“, so Chiari weiter.

Innerhalb der EU sind laut Childhood Obesity Surveillance Initiative 2020 25,2 Prozent der Mädchen und 32,3 Prozent der Knaben im Alter zwischen sieben und neun Jahren übergewichtig. Zwischen 1975 und 2016 erhöhte sich laut einer wissenschaftlichen Studie der Anteil an Kindern und Jugendlichen zwischen fünf und 19 Jahren mit Übergewicht und Adipositas um ein Drittel bei den Knaben und verdoppelte sich bei den Mädchen. Übergewicht und Bewegungsmangel gehen dabei meist Hand in Hand und können bereits im Kindesalter erhebliche körperliche und kognitive Konsequenzen haben. „Der Aufbau und die Kraft von Muskeln, Gelenken, aber auch der Knochen verringert sich, wenn Kinder sich zu wenig bewegen“, berichtet die Physiotherapeutin, Gesundheitswissenschaftlerin und Leiterin des Instituts für Gesundheitswissenschaften an der FH St. Pölten, Barbara Wondrasch. „Auch die Gehirnentwicklung im Verlauf von Kindheit und Jugend verläuft bei Bewegungsmangel nicht adäquat.“

Knochen und Gelenke nehmen Schaden

Übergewicht und Adipositas im Kindesalter können zudem bereits zu erheblichen Schäden an Knochen, Muskeln und Gelenken führen: „Wir sehen Kinder, die bereits arthrotische Schäden etwa an den Kniegelenken aufweisen“, erläutert Wondrasch. Arthrose, also die Abnützung des Gelenksknorpels, tritt in der Regel erst in höherem Lebensalter auf, wenn der Knorpel im Kniegelenk schlechter versorgt wird und sich – etwa aufgrund von Übergewicht und Bewegungsmangel – sich die jahrzehntelange Überbelastung des Kniegelenks in Form von Arthrose manifestiert. Und Chiari ergänzt: „Häufiger sehen wir bei übergewichtigen Kindern die sogenannte Epiphysiolyse des Hüftkopfes, die nur durch eine umfangreiche und sehr komplizierte Operation saniert werden kann. „Dabei löst sich die Wachstumsfuge vom Hüftgelenkskopf“, erklärt Chiari. „Dies kann zwar chirurgisch behoben werden, Folgeschäden aber bleiben.“

Nicht zuletzt die Coronapandemie hat das Problem übergewichtiger Kinder und Jugendlicher mit Bewegungsmangel verschärft. „Es gab keine Turnstunden in den Schulen, die Kinder konnten zu Hause oft nur noch allein herumsitzen“, hält Chiari weiter fest. Das führte nicht nur zu Problemen wie etwa dem sogenannten „Handynacken“, der entsteht, wenn der Kopf stundenlang über das Mobiltelefon gebeugt ist, oder zu Haltungsschäden, weil die Rumpfmuskulatur nicht gestärkt wurde, sondern auch zu einer Vereinsamung der Kinder und Jugendlichen, die nicht selten durch erhöhten Genuss hochkalorischer Lebensmittel zu kompensieren versucht wurde. Denn auch die Ernährungssituation vieler Kinder und Jugendlicher in Österreich ist suboptimal und sollte in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken.

„Bereits im Kindergarten sollten Ernährungsbildung und Bewegungslehre auf dem Plan stehen“, zeigt sich Petra Rust, Ernährungswissenschaftlerin an der Universität Wien, überzeugt. Im Rahmen des „MOGI“-Projekts zur Steigerung des Milch-, Obst- und Gemüsekonsums wurden Materialien für Kindergartenpädagog_innen entwickelt und evaluiert, welche Pädagog_innen in der Ernährungserziehung, die immer stärker in die Bildungseinrichtung wandert, unterstützen können. Qualitätsstandards für die Verpflegung im Kindergarten unterstützen bei der Gestaltung und Umsetzung einer ausgewogenen Ernährung. Derzeit sind diese Qualitätsstandards nur Empfehlungen, die unterschiedlich gut umgesetzt werden.

Charta „Kinder essen gesund“

2020 wurde die Charta „Kinder essen gesund“ verabschiedet, die der Fonds Gesundes Österreich gemeinsam mit der Österreichischen Agentur für Ernährungssicherheit erarbeitet hat. Sechs Prinzipien der Ernährung für Kinder wurden darin niedergelegt:

  1. Gesundes Essen und Trinken mit Genuss fördern!
  2. Ernährungskompetenz stärken, richtige Entscheidungen treffen!
  3. Gemeinschaftsverpflegung zum Wohl der Kinder verbessern!
  4. Nachhaltige, regionale und saisonale Lebensmittel bevorzugen!
  5. Alle Kinder haben ein Recht auf hochwertige Lebensmittel im Sinne gesundheitlicher Chancengerechtigkeit!
  6. Qualität der Maßnahmen sichern!

„Kinder erfahren Ernährung über den Geruch, den Geschmack und die Haptik“, sagt Rust. „Durch gemeinsames Vorbereiten, Kochen und Verkosten bzw. Essen sowie das Kennenlernen unterschiedlicher Esskulturen und Tischmanieren lässt sich Ernährungserziehung im Alltag integrieren.“ Zu stark verarbeitet sollten die Lebensmittel dabei nicht sein. Im Gegenteil: „Kinder sollen den Geschmack einzelner Nahrungsmittel erfahren.“ Werden Kindergartenkinder spielerisch an eine ausgewogene Ernährung herangeführt, so behalten sie diese in der Regel auch in ihrer weiteren Entwicklung bei, sodass es gar nicht erst zu Übergewicht kommt und dem Bewegungsdrang keine Grenzen gesetzt sind. Demnach ist es wesentlich, die Ernährungskompetenz frühzeitig zu steigern, um einer ungenügenden ernährungsbezogenen Gesundheitskompetenz im Erwachsenenalter – wie jüngst im Bericht „Ernährungskompetenz in Österreich“ publiziert - entgegenzuwirken.

Petra Rust

„Bereits im Kindergarten sollten Ernährungsbildung und Bewegungslehre auf dem Plan stehen.“

Petra Rust

Und auch wenn Kinder bereits übergewichtig sind und Probleme entwickelt haben, kann noch viel getan werden, um langfristige Schäden zu verhindern und die Freude an der Bewegung wieder zu fördern. „Ich empfehle zu Beginn immer eine angeleitete Physiotherapie“, sagt Catharina Chiari. „Dabei werden nicht nur Haltungsfehler korrigiert, sondern auch gezielt die Beweglichkeit der betroffenen Kinder verbessert.“ Am besten sollte dies übrigens erfolgen, solange die Kinder noch nicht in der Pubertät sind. „Ist der präpubertäre Wachstumsschub vorbei, können manche Schäden zwar noch behandelt, aber nicht mehr vollkommen geheilt werden.“

Auch Barbara Wondrasch plädiert nicht nur für die gezielte Förderung des Bewegungsdrangs bei Kindern. „Vielmehr sollte bei auftretenden Problemen so rasch wie möglich Hilfe gesucht werden, um betroffenen Kindern weiterhin eine ungestörte Entwicklung zu gewährleisten.“


CATHARINA CHIARI

Univ.-Prof.in Dr.in Catharina Chiari, MSc ist Fachärztin für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, Orthopädie und Traumatologie, sowie Sportorthopädin. Die Gastprofessorin an der Universität für Weiterbildung Krems hat mit Beginn Juli die Leitung der Abteilung für Kinderorthopädie und Fußchirurgie am Orthopädischen Spital Speising in Wien übernommen.

PETRA RUST

Ass.-Prof.in Dr.in Petra Rust ist Ernährungswissenschaftlerin und Studienprogrammleiterin Ernährungswissenschaften am Department für Ernährungswissenschaften der Universität Wien.

BARBARA WONDRASCH

FH-Prof.in Dr.in Barbara Wondrasch ist Physiotherapeutin und Gesundheitswissenschaftlerin. Sie lehrt und forscht an der FH St. Pölten.

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