Wie entsteht fundiertes Wissen? Und wie übersetzt man es in verständliche Sprache? Gerald Gartlehner weiß, wie man Fakten schafft: ein Gespräch über evidenzbasierte Erkenntnis.

Interview: Robert Czepel

 

upgrade: Herr Gartlehner, der Begriff „Fake“ hat Konjunktur, „alternative Fakten“ bestimmen den politischen Diskurs, die Analyse weicht medialem Getöse: Ist das Faktische heutzutage in der Krise?
Gerald Gartlehner: Ich denke, das hat es immer schon gegeben, nur fällt heutzutage eben mehr Licht auf das Problem. US-Präsident Trump trägt das seine dazu bei, er spricht ja in jedem zweiten Interview von „Fake News“. Was die Medizin angeht, sehe ich zwar keine gestiegene Wissenschaftsskepsis – aber sehr wohl die Tendenz, dass sich Patienten nach anderem sehnen. Manche Menschen sind von der wissenschaftlichen Medizin enttäuscht.

Warum?
Gartlehner: Wir haben ein Kommunikationsproblem. In Österreich bekommen niedergelassene Allgemeinmediziner mit Kassenpraxis etwa 13 Euro pro Patient. Daher sind sie aus ökonomischen Gründen oft gezwungen, zusätzliche Behandlungen zu machen, was wiederum zum Problem der Übertherapie führt. In unserem derzeitigen Gesundheitssystem können die Ärzte nicht viel Zeit mit den Patienten verbringen – und viele fühlen sich dadurch auch nicht gut betreut.

Was könnte man dagegen tun?
Gartlehner: Was Gesundheitskompetenz betrifft, liegt Österreich an der viertletzten Stelle innerhalb der EU, nur geringfügig vor Bulgarien. Die Österreicherinnen und Österreicher können die Verlässlichkeit von medizinischen Informationen kaum einschätzen. Hier besteht enormer Handlungsbedarf: Und hier zeigt sich auch ein Versagen der öffentlichen Hand.

Wer liegt bei der Gesundheitskompetenz an der EU-Spitze?
Gartlehner: Die Skandinavier und die Niederländer. In diesen Ländern wird viel mehr Geld für objektive Gesundheitsinformation ausgegeben. Norwegen investiert etwa pro Jahr 30 Millionen Euro für ein Team, das medizinische Informationen recherchiert und der Bevölkerung in gut lesbarer, leicht verständlicher Form in der Landessprache zur Verfügung stellt. Im deutschsprachigen Raum stammen solche Informationen meist von Organisationen, die mit der Industrie verbunden sind oder sonstige Interessenkonflikte haben.

Es wird wohl nicht nur am Geld liegen, sondern auch an der Vermittlungskultur, Stichwort „Fachchinesisch“. Müsste man da nicht auch beim Medizinstudium ansetzen?
Gartlehner: Da haben Sie Recht. Im Curriculum spielt die Vermittlung des Wissens immer noch eine untergeordnete Rolle. Kommunikation ist ein extrem wichtiger Teil des ärztlichen Berufes.

Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, MPH

Kommen wir zu Ihrem Forschungsbereich: Das Cochrane-Netzwerk macht aus medizinischem Wissen gesichertes Wissen. Wie funktioniert das?
Gartlehner: Unser Ziel ist, das beste verfügbare Wissen für medizinische Fragestellungen zusammenzufassen. Das Netzwerk nimmt kein Geld von der Industrie. Die Cochrane-Berichte stammen in erster Linie von motivierten Wissenschafterinnen und Ärzten, die diese Arbeit in ihrer Freizeit erledigen. Letztlich geht es darum, die Forschungsergebnisse zu sichten und statistisch in Meta-Studien neu auszuwerten.

Was war für Sie das überraschendste Ergebnis einer solchen Meta-Analyse?
Gartlehner: Wenn ich eine Studie nennen soll, an der ich selbst beteiligt war, dann war es wohl die Untersuchung von Antidepressiva. Übrigens sind Antidepressiva die am zweithäufigsten verschriebenen Medikamente in der EU. Und sie werden auch sehr stark beworben: Während meiner Ausbildung als Turnusarzt wurden uns noch die medizinischen Unterschiede der Antidepressiva angepriesen. Doch unsere Übersichtarbeit zu 16 verschiedenen Präparaten hat gezeigt: Sie sind eigentlich alle gleich. Zwar gibt es enorme Preisunterschiede, aber am Ende des Tages ist keines wirksamer als das andere.

Vor einigen Jahren kam Cochrane in einer Studie über Akupunktur als Schmerztherapie zu dem Schluss: Die Behandlungen sind in manchen Fällen tatsächlich wirksam. Allerdings ist nach wie vor unklar, warum das so ist. Kommt so etwas öfter vor?
Gartlehner: Natürlich, wir dürfen uns nichts vorgaukeln, es gibt so viel Unverstandenes in der Wissenschaft. Die Halbwertszeit des medizinischen Wissens liegt bei etwa fünf Jahren. Vieles von dem, was wir heute machen, wird in Zukunft wahrscheinlich falsch sein. Ein Beispiel dafür ist die Hormonersatztherapie für Frauen: Bis zum Jahr 2000 wurden solche Hormonpräparate zur Vorbeugung von Herzinfarkt in der Menopause empfohlen. Die damals verfügbaren Daten hatten diesen Zusammenhang nahegelegt, aber im Jahr 2001 stellte sich durch eine große randomisierte Studie heraus, dass das völlig falsch war: Hormonersatztherapie erhöht nicht nur das Risiko für Brustkrebs und Thrombosen, sondern auch für Herzinfarkt.
Wir müssen daher unser eigenes Tun und Handeln ständig hinterfragen, das ist eine der Grundsäulen der evidenzbasierten Medizin. Allerdings ist die Situation so: Pro Tag erscheinen ca. 8.000 Artikel in medizinischen Fachjournalen. Für den Einzelnen ist es unmöglich, in allen Gebieten up to date zu bleiben. Daher brauchen wir gute Werkzeuge für Wissensmanagement, die große Mengen an Information zusammenfassen – systematische Reviews und Meta-Analysen sind eine Form, dieses Problem zu lösen. Was wir brauchen, ist kondensiertes und objektives Wissen.

„Wir müssen unser eigenes Tun und Handeln ständig hinterfragen, das ist eine der Grundsäulen der evidenzbasierten Medizin. “

Gerald Gartlehner

Wie viele Studien lesen Sie pro Monat?
Gartlehner: Gute Frage. Wir arbeiten meist an mehreren Reviews parallel, über alle Fachbereiche hinweg gerechnet würde ich sagen: Es sind 50 bis 100 Studien.

Für Praktiker sind die Reviews der Spezialisten vermutlich auch nicht allzu leicht verständlich: Wie lässt sich das kondensierte Wissen so vermitteln, dass es auch in den Köpfen der Ärzte ankommt?
Gartlehner: In Österreich werden zwischen 20 und 65 Prozent der Ärztefortbildungen durch die pharmazeutische Industrie finanziert. Dadurch entstehen enorme Interessenkonflikte. Darüber hinaus gibt es natürlich gut gemachte Apps und Webtools, die den Letztstand des Behandlungswissens gut zusammenfassen. Beispielsweise „Dynamed“ oder „UpToDate“, das in den niederösterreichischen Spitälern verwendet wird. Die meisten davon sind allerdings auf Englisch verfasst – und das ist für viele Ärzte leider immer noch eine Barriere.

Sie verbringen Ihre Arbeitszeit zum Teil auch an der University of North Carolina. Wie läuft die Ärztefortbildung in den USA ab?
Gartlehner: Hier besteht – wie in Österreich – eine Fortbildungspflicht. Der Unterschied ist, dass die amerikanischen Ärzte zusätzlich ihre Arztprüfung regelmäßig neu ablegen müssen. Diejenigen, die das nicht schaffen, dürfen nicht weiterpraktizieren. Bei uns in Österreich ist das etwas entspannter: Man muss innerhalb eines bestimmten Zeitraums Fortbildungspunkte sammeln. Ich mache das selbst auch, man schafft es relativ leicht, auf die nötigen Punkte zu kommen – vermutlich auch dann, wenn man nicht wirklich up to date ist.

Sollte man das amerikanische System aus Ihrer Sicht auch hierzulande einführen?
Gartlehner: Grundsätzlich fände ich das gut. Allerdings sind diese Prüfungen auch mit einem großen Aufwand verbunden. Es müsste Abkommen mit Arbeitgebern geben: Wer lernt, braucht dafür Zeit. Für die Patientinnen und Patienten wäre das amerikanische System sicher besser.

Glauben Sie, dass die Verdichtung des Wissens, so wie sie Cochrane betreibt, auf andere Disziplinen übertragbar wäre?
Gartlehner: Ich glaube schon, dass die Methode zumindest auf der Medizin nahestehende Disziplinen übertragbar wäre. In der Psychologie ist der Anteil der nicht wiederholbaren Studienergebnisse hoch, hier ist die Medizin sicher weiter entwickelt. Wenngleich man hinzufügen muss, dass auch innerhalb der medizinischen Fächer große Unterschiede bestehen, was evidenzbasiertes Wissen betrifft: Die Zahnmediziner haben im Vergleich zu anderen klinischen Fächern noch Aufholbedarf.

Und was die Sozialwissenschaften betrifft?
Gartlehner: Es würde nichts dagegensprechen, auch dort mit dieser Methode zu arbeiten, wenngleich ich meine Zweifel habe, ob das methodisch sinnvoll oder möglich wäre. In der Medizin verfassen wir Protokolle, Sozialwissenschafter beschreiben via Narrationen – und das sollen sie auch, das ist Teil dieser Wissenschaft. Ich denke, die Übertragbarkeit beschränkt sich auf Fächer, die mit quantifizierbaren Daten arbeiten.


Gerald Gartlehner

Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, MPH ist Professor für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems und Leiter des gleichnamigen Departments. Er fungiert weiters als Direktor der österreichischen Cochrane-Zweigstelle mit Sitz am Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie sowie stellvertretender Direktor des Research Triangle Institute International – University of North Carolina Evidencebased Practice Center, USA. Gartlehner studierte Medizin an der Universität Wien.

 

Robert Czepel

Robert Czepel ist Wissenschaftsredakteur des ORF.

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