Seit kurzem leben acht Milliarden Menschen auf der Erde, jeder Zehnte leidet an Hunger. Um die Ernährungssicherheit in Zeiten des Klimawandels zu verbessern, braucht es mehr internationale Koordinierung, sagen Fachleute – und transdisziplinäre Zusammenarbeit.

Von Tanja Traxler und David Rennert

Nach Angaben der Vereinten Nationen war es im November 2022 so weit: Die Weltbevölkerung überschritt die Schwelle von acht Milliarden. Um die Jahrtausendwende lebten noch rund sechs Milliarden Menschen auf der Erde, Schätzungen zufolge werden es in fünf bis sechs Jahrzehnten etwa zehn Milliarden sein. Weiter gestiegen ist zuletzt auch die Zahl der Menschen, die an Hunger leiden. Von weltweit 720 bis 811 Millionen Betroffenen geht die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen für 2021 aus, also etwa zehn Prozent der Menschheit.

2022 dürfte sich die Versorgungslage weiter verschlechtert haben. Denn zu den Folgen des Klimawandels, die den globalen Süden schon heute besonders treffen, und den vielfältigen Auswirkungen der Corona-Pandemie kamen auch enorme Unterbrechungen der Lieferketten und gestiegene Preise durch den russischen Krieg gegen die Ukraine hinzu: Die Ukraine ist einer der wichtigsten Getreideexporteure der Welt. Durch russische Angriffe und Blockaden gelangte deutlich weniger Weizen in Länder des Nahen Ostens und Afrikas, die von Importen abhängig sind – mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung.

Kaushik Majumdar, Direktor des African Plant Nutrition Institute in Marokko, sieht eine komplexe Gemengelage, die die Ernährungssicherheit destabilisiert. Kaum schienen sich Erfolge im Kampf gegen den Hunger einzustellen, so der Experte, erschüttere die nächste Krise die Welt – und erschwere die Bemühungen, dem Problem beizukommen. „Es scheint, als ob man mit allen technologischen und anderen Verbesserungen immer hinterherhinken würde“, sagt Majumdar, der zurzeit auch das Global Phosphorus Institute leitet, das sich mit Fragen der Nährstoffversorgung befasst. Dabei müsste es keineswegs so sein: Studien würden zeigen, dass die heute produzierten Nahrungsmittel für zehn Milliarden Menschen reichen würden. „Ein Problem ist also die Verteilung und der Zugang zu Nahrungsmitteln“, sagt der Wissenschafter.

Fehlende Ernährungssicherheit bedeutet aber nicht nur Hunger, von Mangelernährung sind noch weitaus mehr Menschen betroffen. Eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung, die ausreichend Nährstoffe liefert, ist für rund zwei Milliarden Menschen nicht oder kaum leistbar und zugänglich. Auch für Matthias Raddant geht es bei der Sicherstellung der Versorgung mit Lebensmitteln um ein „weltweites Koordinierungsproblem“. Raddant ist an der Universität für Weiterbildung Krems sowie am Complexity Science Hub in Wien tätig, sein Forschungsfokus umfasst globale Finanzmärkte und ökonomische Netzwerke. Für die Koordination der Lebensmittelversorgung erschwerend kommt laut Raddant der Umstand hinzu, dass jedes Land seine Landwirtschaftspolitik hauptsächlich regional betreibt. „Wir sind weit entfernt von einem weltweit abgestimmten System, wo etwa der Einsatz von Düngemitteln und die Produktion von Nahrungsmitteln gesamtheitlich gesteuert werden.“

Charlotte Hebebrand

„Das Lebensmittelsystem ist ein sehr bedeutsamer Arbeitgeber für Menschen weltweit. Aber leider sind diese Jobs oft sehr schlecht bezahlt.“

Charlotte Hebebrand

Beim Einsatz von Düngemitteln seien global sehr starke Unterschiede zu bemerken. „In manchen Gebieten der Welt wird sehr viel Dünger eingesetzt, in anderen sehr wenig. Das spricht dafür, dass es bei der Ausbringung von Düngemitteln und bei der Entscheidung, welche Pflanzen wir wo anbauen, Optimierungspotenzial gibt“, sagt Raddant.

Für Gerald Steiner, Professor für Organisationskommunikation und Innovation an der Universität für Weiterbildung Krems, ist die tiefgreifende Analyse der gegenseitigen Abhängigkeiten und komplexen Zusammenhänge die Voraussetzung, um Ernährungssicherheit nachhaltig anzugehen. „Wir müssen uns bewusst sein, dass die Ernährungskrise kein isoliertes Problem ist, sondern mit vielen anderen Faktoren zusammenhängt“, sagt Steiner. „Sie hat mit Energie zu tun, sie steht im Zusammenhang mit dem Klimawandel, aber auch mit der biologischen Vielfalt. Für die Lösung dieses facettenreichen Problems sei es unumgänglich herauszuarbeiten, wo man Schwerpunkte setzen muss und welche Methoden angewendet werden, aber auch, welche Art von Wissen benötigt wird, sowohl seitens der Wissenschaft wie auch der Praxis.“

Brücke zur Praxis

Die enorme Komplexität dürfe aber keinesfalls dazu führen, aus Überforderung den Kopf in den Sand zu stecken, sagt Steiner. „Wir haben bereits einige Instrumente entwickelt, um transdisziplinär zusammenzuarbeiten.“ Auch Raddant betont, dass die transdisziplinäre Zusammenarbeit unumgänglich sei, wenn auch durchaus fordernd. Damit der Brückenschlag zwischen den Disziplinen sowie zwischen Theorie und Praxis gelingen kann, ist es laut Raddant wichtig, „dass alle versuchen, sich auf ihr jeweiliges Gebiet zu spezialisieren, aber trotzdem mit den anderen Disziplinen zu sprechen, denn keiner kann alles alleine erreichen“.

Die Zusammenarbeit sowohl von Wissenschafter_innen aus unterschiedlichen Regionen wie auch mit sozialen Akteur_innen ist für Charlotte Hebebrand vom International Food Policy Research Institute in Washington, DC entscheidend, damit Ergebnisse der Forschung auch in die Praxis umgesetzt werden. „Wir haben einen extrem großen Bedarf an Lösungen, was wir sicher nicht brauchen, ist noch mehr Forschung, die in irgendwelchen Bücherregalen landet“, sagt Hebebrand.

Extremwetter fordert heraus

Eine enorme Herausforderung für die Zukunft stellt der Klimawandel dar. Besonders Länder des globalen Südens sind schon heute massiv von Extremwetterereignissen betroffen, wie zuletzt etwa die katastrophalen Rekordüberflutungen in Pakistan zeigten, die auf eine anhaltende Dürre folgten. „Wir sehen die Auswirkungen schon heute, etwa, indem sich Anbaugebiete verschieben, und das wird sich noch verstärkten“, sagt Raddant.

Für Länder in kühleren Regionen klingt die Prognose vielleicht gar nicht so unattraktiv. Plötzlich gedeiht Wein oder andere wärmeliebende Pflanzen in Regionen, in denen das früher nicht denkbar war. „Aber natürlich gibt es da sehr viel ernstere Auswirkungen in Ländern, die näher am Äquator sind, wo es große Verschiebungen gibt, was dort überhaupt noch angebaut werden kann“, so Raddant. Prognosen lassen befürchten, dass die Erträge der vier wichtigsten Grundnahrungsmittel – Weizen, Mais, Reis und Sojabohnen – durch den Klimawandel in drei Jahrzehnten um bis zu ein Viertel zurückgehen könnten.

Eine mögliche Strategie, um darauf zu reagieren, sei, besser geeignete Pflanzen anzubauen oder robusteres Saatgut zu verwenden. „Wir stehen dabei aber auch vor einem Kommunikationsproblem: Es ist davon auszugehen, dass die Weltbevölkerung morgen das essen wird, was sie gestern auch gegessen hat – fraglich ist aber, ob die Erträge auf den zur Verfügung stehenden Flächen in diesem Umfang aufrechterhalten werden können.“

Klimafaktor Landwirtschaft

Wie schwierig und langsam Änderungen der Ernährungsgewohnheiten auch in den wohlhabenden Regionen der Welt sind, zeigt sich seit Jahren an der Debatte über den hohen Fleischkonsum. Bis zu ein Drittel aller Emissionen stammen aus der Landwirtschaft, deshalb ist eine nachhaltigere Landnutzung für die Reduktion der globalen Emissionen der beiden wichtigsten Treibhausgase, Kohlenstoffdioxid und Methan, unumgänglich. Besonders die Viehwirtschaft schlägt negativ zu Buche, sie ist ein enormer Emissionsfaktor und verbraucht riesige Landflächen für den Anbau von Futtermitteln. Eine Umstellung des Speiseplans mit weniger Fleisch und mehr Gemüse auf dem Teller würde viel bringen, geht aber nur schleppend voran.

„Die Nahrungsmittelproduktion und Nachhaltigkeit sind sehr eng miteinander verflochten“, sagt Hebebrand. „Wir wissen einerseits, dass die Nahrungsmittelproduktion sehr stark vom Klimawandel betroffen ist“, sagt Hebebrand, „anderseits ist sie auch ein wesentlicher Verursacher von Treibhausgasemissionen“. Die Verzahnung dieser Problemlagen tritt immer deutlicher zutage, doch nicht zuletzt spielt auch die Wirtschaftslage stark in die Ernährungssicherheit hinein.

Sorge vor Rezession

Für Hebebrand ist die aktuelle Situation am weltweiten Lebensmittelmarkt dadurch geprägt, dass „die Preise für globale landwirtschaftliche Güter wieder hinuntergehen – und dieser Rückgang ist auch noch für das kommende Jahr prognostiziert“. Bei aller Freude darüber, dass die Spitzenpreise auf Grundnahrungsmitteln in den vergangenen Monaten inzwischen wieder rückläufig sind, sei man aber zugleich mit der Sorge einer möglichen weltweiten Rezession konfrontiert. „Wir müssen also sehr aufpassen, dass wir diesen Rückgang bei den Preisen nicht als Zeichen interpretieren, dass alle Probleme bei der Sicherstellung der globalen Ernährungssituation nun gelöst sind.“

Matthias Raddant

„Wir sind weit entfernt von einem weltweit abgestimmten System, wo der Einsatz von Düngemitteln und die Produktion von Nahrungsmitteln gesamtheitlich gesteuert werden.“

Matthias Raddant

Die internationalen Preise für Nahrungsmittel spielen zwar eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, den Hunger auf der Welt zu bekämpfen. „Aber es gibt immer auch Entwicklungen in den jeweiligen Ländern, die die Ernährungssicherheit lokal beeinflussen“, sagt Hebebrand. „Ein großes Problem aktuell ist, dass viele landwirtschaftliche Güter in Dollar gehandelt werden, und das macht Lebensmittel wie auch Dünger für viele Länder aktuell sehr teuer. Die lokale Inflation ist also ein wirklich großes Problem.“

Folgen der Energiekrise

Hebebrand sieht den globalen Lebensmittelmarkt auch einigen Risiken ausgesetzt. Das größte davon seien aktuell die hohen Energiepreise. „Die Energiepreise gehen zwar momentan zurück, aber wir befinden uns immer noch in einer sehr volatilen Situation.“

Weiters müssten die Preise für Düngemittel im Auge behalten werden. „Die Preise dafür sind immer noch recht hoch, wodurch sich viele Bauern derzeit gar keine Düngemittel leisten können“, sagt Hebebrand. Bereits im Jahre 2020 hätten Unterbrechungen von Lieferketten durch die Corona-Pandemie zu einem Preisanstieg bei Düngemitteln geführt. „Aber der russische Überfall auf die Ukraine brachte einen weiteren großen Schock für den Düngemittelmarkt, denn Russland ist einer der weltweit größten Produzenten von Düngemitteln.“ Die Sanktionen gegen Russland hatten in der Folge einen großen Einfluss einerseits auf die Verfügbarkeit, anderseits auf die Preise von Düngern.

Neben der Bereitstellung von Lebensmitteln hat die globale Nahrungsmittelproduktion auch eine zentrale soziale Funktion, die nicht außer Acht gelassen werden dürfe. „Das Lebensmittelsystem ist ein sehr bedeutsamer Arbeitgeber für Menschen weltweit. Aber leider sind diese Jobs oft sehr schlecht bezahlt“, sagt Hebebrand.

Die Ernährungssicherheit auf der Welt ist jedenfalls immer wieder durch neue Herausforderungen geprägt – ökologisch, ökonomisch und sozial. Eine Schlüsselrolle im niemals endgültig abgeschlossenen Unterfangen, ausreichend Essen für alle Menschen bereitzustellen kommt dabei Frauen zu. „Wir wissen, dass wenn Frauen in einem Haushalt ermächtigt werden, mehr Entscheidungen zu treffen, einen größeren Zugang zu Finanzen zu haben, verbessert sich die Ernährungssituation massiv“, sagt Hebebrand.

In vielen Ländern der Welt hätten Frauen immer noch viel weniger Einfluss darauf, wie das Haushaltsbudget einer Familie ausgegeben wird, was unmittelbar zur prekären Ernährungssituation beiträgt. „Frauen sind bei der Bekämpfung von Hunger also wirklich sehr wichtig. Wenn Frauen einen besseren Zugang zu Bildung, Finanzen und Wissen haben, hilft das nicht nur den Frauen, sondern hat zugleich immens positive Auswirkungen auf die Ernährungssituation.“

Tanja Traxler und David Rennert sind Wissenschaftsjournalist_innen bei der Tageszeitung Der Standard.


KAUSHIK MAJUMDAR

Dr. Kaushik Majumdar ist Direktor des African Plant Nutrition Institute in Marokko. Der Bodenmineraloge leitete davor das South Asia Program des International Plant Nutrition Institute (IPNI) in Indien.

CHARLOTTE HEBEBRAND
Charlotte Hebebrand ist Director of Communications and Public Affairs am International Food Policy Research Institute in Washington, DC. Davor fungierte die Forscherin als Generaldirektorin der International Fertilizer Industry Association in Paris.

MATTHIAS RADDANT

Dr. Matthias Raddant ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement der Universität für Weiterbildung Krems und forscht daneben am Complexity Science Hub Vienna.

GERALD STEINER

Univ.-Prof. Dr. Gerald Steiner leitet das Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement der Universität für Weiterbildung Krems, wo er als Co-Dekan der Fakultät für Wirtschaft und Globalisierung fungiert.

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