29.09.2021

Das Ergebnis der deutschen Bundestagswahl steht nach einem langen Wahlkampf fest. Die Kandidat:innen und Parteien haben alle kommunikativen Mittel ausgeschöpft um ihre Wähler:innen zu mobilisieren und Stimmen für ihre Themen und Positionen zu gewinnen. Welche Herausforderungen und Besonderheiten hatten die Kandidat:innen und Parteien kommunikativ zu bewältigen – und welche werden in zukünftigen Wahlen wichtig werden?

Der vergangene Wahlkampf hat vor allem gezeigt, dass die Kandidat:innen und Parteien nicht mehr ausschließlich auf Althergebrachtes setzen können. Grundlegend scheint allerdings alles gleich geblieben zu sein: Das demokratietheoretisch fundierte Ziel der Wahlen ist es, Parteien und Personen in die Lage zu versetzen, für einen begrenzten Zeit kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen zu können. Damit dies geschehen kann, müssen Parteien als kollektive Interessensvertretungen kommunizieren, zu welchen Themen sie welche Entscheidungen bevorzugen und mit welchem Personal sie dies umsetzen möchten. Die Wähler:innen zeigen durch ihre Stimmabgabe an, wem sie dies zutrauen.

Gegenwärtig unterliegt dieser idealtypische Prozess vielen Veränderungen: Transformationen wie die Individualisierung der Gesellschaft oder der zunehmende gesellschaftliche Relevanzverlust von politischen Institutionen lassen die individuelle Bindung an politische Kollektive schwinden. Gleichzeitig fördern sie die Zuwendung oder Abwendung zu Themen, die für die Individuen persönlich relevant sind.

Der Prozess der Digitalisierung wandelt die politische Öffentlichkeit von einer durch Massenmedien hergestellte, nahezu universellen Sphäre hin zu einer durch Social Media konstituierte segmentierte Netzwerköffentlichkeit. Hier finden Menschen die Informationen und Gruppen zu den Themen ihres persönlichen Interesses und sind nicht mehr notwendigerweise auf die Vermittlungsleistung der Massenmedien angewiesen.

Ökologische Wandelprozesse zeigen auf, dass die von der Politik zu bewältigenden Themen über den Wahlzeitraum hinaus bestehen und daher auch neben stetig bearbeiteten Themen mit verhandelt werden müssen.

Daraus ergeben sich Veränderungen, welche diese Wahl beeinflusst haben, aber auch zukünftige Wahlen beeinflussen werden. Parteien, Kandidat:innen und Wähler:innen müssen sich daher ebenfalls wandeln, wenn sie weiterhin erfolgreich sein möchten.

These 1: Die Parteien wandeln sich – nicht schnell genug

Die Individualisierungsprozesse zeigen, dass Parteien nicht mehr ausschließlich als kollektive Interessensvertretungen für individuelle Personen relevant sind. Dies liegt auch in der fehlenden Profilschärfe vor allem der großen Parteien begründet: Wofür sie stehen, muss wieder deutlich kommuniziert werden. Nur so können sie zeigen, dass sie für individuelle Wähler:innen wieder interessant sind.

Dazu gehört auch, dass eine übermäßige Fokussierung auf einzelne Kandidat:innen nicht der einzige Inhalt der Kommunikation sein kann. Die Wahl hat gezeigt, dass persönliche Verfehlungen von Kandidat:innen diese schnell in einen negativen Fokus rücken können. Nur auf die Kandidat:in zu setzen reicht daher nicht aus, vielmehr müssen die Themen und Positionen in den Fokus rücken. Diese sollten sich aus dem geschärften Profil der Parteien ergeben und aktuelle Themen aber auch langfristig vertretene Inhalte beinhalten.

Die Kandidat:innen, die diese Themen dann verkörpern, müssen kommunizieren, dass sie persönlich und fachlich kompetent sind, diese Themen anzugehen – und so kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen zu können.

These 2: Die Themen wandeln sich – etwas zu schnell

Die Mischung der Themen ist entscheidend: Im Wahlkampf müssen nicht nur die gerade aktuellen Themen verfolgt werden. Auch Positionen zu „zeitlosen“ Themen wie Arbeit, Soziales, Außenpolitik und andere gehören in das kommunikative Portfolio einer Partei. Nur durch den Themenmix kann eine Partei zeigen, dass sie langfristig denken, aber auch kurzfristig handeln kann.

Daher muss anerkannt werden, dass viele Themen zu komplex sind, als dass man sie mit einem Schlagwort kommunizieren kann. Hier ist neben der fachlichen Kompetenz auch eine Vermittlungskompetenz nötig. Die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation sind hier nützlich: Das Internet bietet unbegrenzten Raum für die Darstellung von Problemen und Lösungen – und stellt ein diskussionsfreudiges Publikum bereit.

Langfristige Themen wie der Klimawandel und die Digitalisierung zeigen auf, dass ein ebenso langfristiges Commitment eingegangen werden muss, um kluge kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen zu können. Diese Themen sind zu wichtig, um sie nur einer Regierung zu überlassen und zu komplex, um sie in einer Legislaturperiode zu Ende führen zu können. Wichtig wird dann eine Bereitschaft der Parteien und Kandidat:innen, die Arbeit ihrer Vorgänger:innen anzuerkennen und fortzuführen.

These 3: Die Wählerschaft wandelt sich – vom Kollektiv zum Individuum

Die Wähler:innen agieren immer stärker auf Basis ihrer persönlichen Interessen. Sie entscheiden sich daher weniger für eine Partei als Gesamtpaket, sondern für einzelne Themen, die sie von den Parteien vertreten sehen. Die Erstwähler:innen der deutschen Bundestagswahl 2021 haben sich hier vor allem für Themen wie Digitalisierung und Klimawandel begeistert und den Parteien ihre Stimme gegeben, die sie hier für kompetent erachten. Eine Fokussierung auf Themen hilft den Parteien, neue Wähler:innen für sich zu gewinnen.

Gleichzeitig können sich Parteien ihrer Stammwählerschaft nicht mehr sicher sein. Eine enge Bindung von Parteien an soziale Gruppen oder Milieus ist nicht mehr gegeben. Auch hier entscheiden individuelle Interessen oder aktuelle Lebenslagen über die Zuwendung oder Abwendung zu Parteien.

Zentral wird es auch werden, die Nicht-Wähler:innen davon zu überzeugen, ihre Stimme abzugeben. Demokratie lebt von der Vielfalt der Interessen, die dann auch im Parteienspektrum abgebildet werden müssen.

These 4: Wahlwerbung muss sich ändern – in Form und Inhalt

Der Medienwandel zeigt, dass die Ansprache von Wähler:innen über Massenmedien wie Wahlwerbespots im Fernsehen kaum noch funktioniert. Zu differenziert sind die Interessen der individuellen Wähler:innen, als dass sie mit einer sehr allgemeinen Botschaft von den Parteien bedient werden können. Hier zeigen Social Media ihre Stärke. Über diese Kanäle sind personalisierte Ansprachen entlang der thematischen Interessen der Nutzer:innen möglich.

Auch hier ist eine Rückbesinnung auf Inhalte erfolgsversprechend. Eine bloße Reduktion von Themen auf Hashtags reicht bei der Diskussionsbereitschaft der Nutzer:innen nicht aus. Gerade im digitalen Raum besteht die Möglichkeit, vielfältige Positionen darzulegen und so auch Nutzer:innen zu erreichen, die mit den klassischen Kommunikationsformen nicht angesprochen werden.

In der Werbekommunikation reicht auch das Spiel mit diffusen Ängsten als einzigem Inhalt nicht aus. Botschaften wie: „Wer x wählt bekommt y“ oder die Androhung eines diffusen „Linksrutsches“ werden von den Wähler:innen schnell durchschaut. Eine emotionale Ansprache ist sicherlich ein guter Weg, Wähler:innen zu erreichen, sie muss aber immer nur das Mittel sein, um tatsächliche, deutlich komplexere Inhalte zu kommunizieren.

These 5: Berichterstattung muss sich ändern – in Form und Inhalt

Reduzieren sich die Inhalte der Parteien auf Kandidat:innen, dann wird die tagesaktuelle Berichterstattungsform des „Horse-Racing“ dominant. Beständig wird aufgezeigt, welche:r Kandidat:in in den Umfragen vorne liegt und welche Aktionen ihn oder sie um den Spitzenplatz gebracht hat. Dies kann nicht die alleinige Form der Berichterstattung sein, vielmehr müssen auch längere Reportagen und Interviews das komplexe Feld der Themen und die Positionen der Kandidat:innen dazu aufzeigen und vermitteln.

Die Fokussierung auf Kanidat:innen bringt auch Showformate wie die „Trielle“ hervor, in denen sich die Kandidat:innen einen stark reglementierten „Schlagabtausch“ liefern. Diese zeitlich und inhaltlich limitierten Sendungen ermöglichen es aber nicht, die notwendige volle Komplexität der Themen und Positionen zu vermitteln. Es bleibt bei einem „Schlagabtausch“ der so ohne zusätzliche Erkenntnis für die Wähler:innen bleiben muss.

Hintergründige Berichterstattung über Themen und Kandidat:innen kann auch in Satiresendungen erfolgen. Diese handeln zwar wie Journalist:innen – sie recherchieren und decken auf – ohne aber den journalistischen Regeln von Objektivität und Neutralität verpflichtet zu sein. So können sie gezielt die Lücken in den Argumenten der Kandidat:innen und Themen aufdecken. Durch die humorvolle Arte erreichen sie vor allem auch junge Wähler:innen, die sich auf dieser Basis weiter informieren und ihre Meinung bilden können.

Bonusthese: Die kleinen Parteien werden wichtiger

In der vergangenen Bundestagswahl sind über acht Prozent aller Stimmen auf die „sonstigen Parteien“ entfallen. Diese Klein- und Kleinstparteien setzen sich mit speziellen Themen und Inhalten auseinander, die viele Menschen ansprechen. Die Wahlergebnisse zeigen, dass die Wähler:innen dieser Parteien ihnen durchaus Kompetenzen zuschreiben, hier kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen zu können – und erkennen dies im Umkehrschluss auch den anderen Parteien ab.

Dies kann entscheidend sein: Selbst die Satirepartei DIE PARTEI wurde von etwa 500.000 Menschen gewählt, was etwa einem Prozent der Wählerstimmen entspricht – genau die Menge, die anderen Parteien gefehlt hätte. Die Klein- und Kleinstparteien haben auch den Vorteil, dass sie „ohne Rücksicht auf Verluste“ kommunizieren können, da sie nur gewinnen können. Ob die Gewinner:innen der kommenden Wahl aus dem Spektrum der Kleinstparteien stammen, wird aber die nächste Wahl entscheiden.

Autor

Dr. Martin Herbers

Zeppelin Universität (Deutschland)

Zum Anfang der Seite