13.03.2023

Demokratie lebt in jeder Hinsicht von der Vielfalt

Je mehr Menschen sich politisch beteiligen, desto eher finden sie eine Chance, sich und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Der demokratische Prozess ist somit immer auch ein kommunikativer Prozess: Nicht nur die vielfältigen Positionen werden miteinander verhandelt; ebenso berichten Journalist:innen und andere Medienvertreter:innen über die Akteur:innen, Inhalte und Ergebnisse dieser Verhandlungen. So werden noch mehr Menschen in die öffentliche Diskussion mit einbezogen und in die Lage versetzt, kritisch-konstruktiv Stellung zu beziehen. Pluralität und Demokratie gehören zusammen, auch in der Medienberichterstattung. Dieser Zusammenhang ist dann funktional, je vielfältiger das Medienangebot ist: etwa in den gewählten Darstellungsformen, den Themen, über die berichtet wird oder die verschiedenen Akteuer:innen, die dabei zu Wort kommen.

Mit Blick auf die journalistische Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine wurde allerdings der Vorwurf laut, dass hier die geforderte Vielfalt nicht gegeben ist oder gar bewusst eingeschränkt wurde. Prominent wird diese Ansicht etwa im Buch „Die vierte Gewalt: Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ von Richard David Precht und Harald Welzer geäußert. Sie stellen in ihrer Analyse die Behauptung auf, die deutsche journalistische Berichterstattung hätte sich insgesamt nahezu darauf geeinigt, die Kriegsereignisse auf eine einseitige Art und Weise darzustellen. So wäre eine vermeintliche Mehrheitsmeinung geschaffen worden, vor deren Hintergrund die Politik quasi gegen ihren Willen zum Handeln gezwungen wurde. Verhängte Sanktionen oder Waffenlieferungen sind dann das Ergebnis einer vermeintlichen Mehrheitsmeinung, die so stark scheint, dass man ihr nicht widersprechen kann und daher auch gegen seine eigentlichen Interessen handelt.

Die These, dass eine als einheitlich und konsonant wahrgenommene medial veröffentlichte Meinung als nahezu widerspruchslos stark aufgefasst wird, ist nicht neu. Precht und Welzer äußern sie lediglich prominent und schaffen so dass Bild eines dysfunktionalen Zusammenhangs von einseitiger Medienberichterstattung und einem daraus resultierenden eingeschränkten demokratischen Prozess.

Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei der Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann. In ihrer Theorie der „Schweigespirale“ beschreibt sie bereits seit den 1970er-Jahren die Rolle von journalistischen Medien bei der Bildung der kollektiven öffentlichen Meinung und der individuellen Meinungsbildung. Um sich eine eigene Meinung bilden zu können, schließen sich Individuen einer wahrgenommenen kollektiven Mehrheitsmeinung an, die sie vor allem den journalistischen Massenmedien entnehmen. Diese berichten und bewerten, so die Kritik der Wissenschaftlerin, in der Regel einheitlich-konsonant über ein bestimmtes Thema. Motiviert sind die individuellen Menschen dabei von einer starken Furcht, sich sozial und politisch zu isolieren. Daher schließen sie sich in ihren eigenen Aussagen denjenigen Positionen an, die sie in den Massenmedien vertreten sehen. Diese werden hier als einheitlich akzeptierte öffentliche Meinung wahrgenommen, der sich die Individuen anschließen können, ohne die eigene Isolation fürchten zu müssen. Hier sieht Elisabeth Noelle-Neumann eine Gefahr für den demokratischen Prozess: Es kann sein, dass Menschen sich ausschließlich an die in den Medien verbreitete öffentliche Meinung anschließen und so mit ihrer eigenen Meinung zurückhalten – vor allem wenn diese nicht mir der medial vermittelten öffentlichen Meinung übereinstimmt. So bildet sich eine sogenannte schweigende Mehrheit, die der Überzeugung ist, mit der eigenen Meinung im Recht zu sein, jedoch aus Furcht vor sozialer Isolation diese nicht äußern zu können. So stellt die Theorie der Schweigespirale – ähnlich wie die Analyse von Precht und Welzer fest – dass die als einheitlich wahrgenommene in den Medien vermittelte öffentliche Meinung scheinbar keinen Widerspruch duldet und deswegen individuelle wie kollektive politische und kommunikative Handlungen auslöst, die eigentlich nicht gewollt waren. Die Medienberichterstattung ist hier durch die starke Konsonanz dysfunktional.

Die Positionen von Precht und Welzer, aber auch an der implizit referenzierten Theorie der Schweigespirale müssen allerdings kritisch eingeordnet werden. Entscheidend ist in diesen Entwürfen, dass die Medienberichterstattung über alle Medien hinweg konsonant ist, also wesentlich in Inhalt und Bewertung übereinstimmt. Diese Annahme geht allerdings von einem System der Massenmedien aus, dass vor allem von Printmedien und Fernsehnachrichten dominiert wird. Bei einer festen Anzahl an Sendern und einer stetig zunehmenden Pressekonzentration sieht Noelle-Neumann hier ihre Annahmen bestätigt. Gegenwärtig muss aber vielmehr von einem vielfältigen Mediensystem ausgegangen werden, das neben den traditionellen Massenmedien auch Social-Media-Angebote beinhaltet. Rein quantitativ ist das Argument der eingeschränkten und konsonanten Berichterstattung über all diese Medien hinweg kaum noch aufrecht zu erhalten.

Auch qualitativ lässt sich dem Argument der konsonanten Berichterstattung mit einem genaueren empirischen Blick etwas entgegensetzen: So erforschte ein Team um den Münchner Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer in der Studie „Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg“, ob und wie die Vielfalt in der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine tatsächlich eingeschränkt war. Analysiert wurde die Berichterstattung acht deutscher Leitmedien (FAZ, Süddeutsche Zeitung, Bild, Spiegel, Zeit, ARD Tagesschau, ZDF Heute und RTL Aktuell) zwischen dem 24. Februar und dem 31. Mai 2022, also dem Zeitraum, auf den sich auch die Ausführungen von Precht und Welzer beziehen. Die Studie stellt fest, dass die vermeintliche Konsonanz so nicht gegeben ist: Vor allem bei der Bewertung der Maßnahmen zur Beendigung des Kriegs (Sanktionen, Waffenlieferungen, diplomatisches Handeln, etc.) liegen hier die einzelnen Beiträge deutlich auseinander. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz wird unterschiedlich eingeordnet: Seine anfängliche Meinungsstärke wird gelobt, aber auch sein Zögern mit Blick auf die Durchsetzung und Umsetzung von Entscheidungen wird deutlich adressiert und kritisiert. Einheit besteht allerdings bei der Zuschreibung der Kriegsverantwortung: Diese wird bei Russland und dessen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine gesehen.

Von einer Konsonanz kann also nicht die Rede sein und die von Precht und Welzer aufgestellte These kann mit Blick auf die Rolle der Massenmedien deutlich zurückgewiesen werden. Die Social-Media-Angebote werden zwar hier nicht untersucht, doch zeigt bereits ein kurzer Blick in die entsprechenden Hashtags und Kommentarspalten, dass hier Meinungen geäußert werden, die alles andere als konsonant sind und das Spektrum der Kommunikation erweitern – und die Menschen dort auch augenscheinlich keiner Isolationsfurcht unterliegen.

Sieht man also das Mediensystem in seiner Gesamtheit, dann stellt sich die dort abgebildete öffentliche Meinung vielfältiger dar als augenscheinlich angenommen. Es gilt also auch hier, den eigenen Blick beständig zu erweitern und sich seiner eigenen blinden Flecken in der Wahrnehmung bewusst zu werden. Allerdings gilt auch: Manchmal ist man sich eben einig. Und diese Einigkeit muss nicht demokratieschädigend sein.

Autor

PD Dr. Martin R. Herbers

Zeppelin Universität (Deutschland)

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