23.04.2021

Die Suche nach einem neuen Narrativ für Europas Universitäten pendelt zwischen Harmonisierung durch EU-Vorgaben, Eigenständigkeit durch Profilbildung und Erfüllung regionaler Erwartungen. Antonio Loprieno, Birgitta Wolff, Günther Burkert und Peter Parycek gingen am 15. April 2021 in einem Webinar auf die genannten Aspekte ein.

Europas Universitäten, insbesondere jene des deutschsprachigen Raums, befinden sich in herausfordernden Zeiten. Im Spannungsfeld ihres eigenen Selbstverständnisses, externer Erwartungshaltungen und grundlegender Veränderungen der internationalen Hochschullandschaft müssen sie ihren Weg finden. Schon in seinen Begrüßungsworten verwies Mag. Friedrich Faulhammer, Rektor der Universität für Weiterbildung Krems, auf diesen Druck, den die Universitäten spüren. Dieser Druck ist auf Ebene der European University Association, zu der die Universität für Weiterbildung Krems seit Ende 2020 gehört, ebenso spürbar wie im nationalen Kontext, wo sich ministerielle Erwartungshaltungen in Form von Leistungsvereinbarungen manifestieren. 

Die Keynote von Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Antonio Loprieno, Ägyptologe, ehemaliger Rektor der Universität Basel und Präsident des Österreichischen Wissenschaftsrates, ging auf Aspekte seines Buches „Die Entzauberte Universität: Europäische Hochschulen zwischen lokaler Trägerschaft und globaler Wissenschaft“ und die Entwicklungen in den letzten fünf Jahren seit dessen Verfassen ein.    

Historisches Verständnis der Einrichtung Universität

Historisch machte Loprieno drei prägende Stationen in der Entwicklung des universitären Selbstverständnisses aus: Den Humboldt’schen Gründungsmythos, die 68er-Bewegung mit der Frankfurter Schule sowie seit dem Jahr 2000 „Bologna“, Synonym geworden für den europapolitischen Wandel der Hochschullandschaft. Die Gewährung von Freiheit für die Universitäten im Anstrich betrieblicher Autonomie wurde von manchen als „Verrat an der kulturellen Enzyklopädie“ verstanden. Dieser kritische Ansatz sei allerdings gerade ein Problem des deutschsprachigen Raums, so Loprieno. Als im 19. Jahrhundert die Rolle der Universitäten verhandelt wurde, kristallisierten sich europaweit drei unterschiedliche bürgerliche Bildungsideale heraus. Die im deutschsprachigen Raum dominierende Anschauung wurde das Humboldt’sche Modell, dessen tragenden Pfeiler die Vermittlung von fachlicher Kompetenz auf dem Weg einer staatlich finanzierten Ausbildung bildet. Eine Gegenposition nehme das Modell der Liberal Arts Education ein, in dem ein Kanon kultureller Inhalte im Zuge privater Vermittlung weitergegeben wird, was den allgemeinen Bildungscharakter als Vorbereitung für eine führende Rolle in der Gesellschaft betone. Dem gegenüber stehe die technische Ausbildung, die auf die berufliche Anwendung ausgerichtet sei.

Mit dem 20. Jahrhundert veränderten sich die Rahmenbedingungen für die Universitäten als Organisation in Kontinentaleuropa. Besonders sichtbar wurde der organisatorische Wandel in der Abkehr vom Primat des Fachs, etwa die Baseler Ägyptologie, hin zur Marke „Universität Basel“. Dieser wirtschaftliche Zugang führte auch zur Notwendigkeit der Ausformung von Alleinstellungsmerkmalen, um sich im Wettbewerb von den Konkurrenten abzugrenzen. Dieser Auffassung entsprach auch die Quantifizierung von Aufwand und Ertrag im Wissenschaftsbetrieb.

Zwischen Harmonisierung und Eigenständigkeit

In Europa fanden sich die Universitäten mit zwei teils widersprechenden Erwartungshaltungen konfrontiert: Auf der einen Seite die Anpassung an europäische Standards zur Harmonisierung des Angebots bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung, da jede Universität besser als die anderen werden musste. Dies ließ ein weniger harmonisches Konkurrenzverhältnis entstehen. Konkret ging Loprieno auf die Positionierung der Universitäten anhand der Orientierung an der Forschung und dem Arbeitsmarkt ein, woraus er unter anderem den aktuellen Erfolg der technischen Universitäten ableitete.

Die transformative Rolle der Digitalisierung brachte bei den Universitäten eine Verschiebung von der klassischen Aufgabe der Wissensvermittlung hin zur „Zähmung“ der überbordenden Informationsflut, gerade mit Blick auf Fake News. Bei den jüngeren Entwicklungen griff Loprieno eine Facette der wissenschaftlichen Exzellenz auf, die ihre zahlenmäßige Entsprechung in eingeworbenen Grants finde. Spannend sei für den Wissenschafter die Priorität des Netzwerk-Gedankens in der EU-Hochschulpolitik, wodurch auch die lokale Dimension der Universitäten stärker betont werde. Dass das lokale Ökosystem attraktiver werde, zeigen auch die Aktivitäten der Politik, beispielsweise die Neugründungen in Linz und Nürnberg. Ob es in diesem Zusammenhang zu einer Neugewinnung der Rolle der Politik in der Gestaltung der Autonomie komme, bleibe abzuwarten, so Loprieno.

Ausdifferenzierung als Narrativ

In ihrem Eingangsstatement griff Univ.-Prof. Dr. Birgitta Wolff, ehemalige Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt am Main (2015–2020) und aktuell Dekanin der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg, drei Themen auf. Zum einen stellte sie zur Diskussion, ob es sinnvoll sei, ein einheitliches Narrativ für die Universitäten zu suchen. Als Narrativ des Hochschulsystems macht Wolff die Ausdifferenzierung aus, etwa in die Europäische Universität, die Reflexive bzw. Kritische Universität, die Humboldt-Universität, die Digitale Universität, in Kaderschmieden oder alternative Denkwerkstätten.

Weiters beleuchtete Wolff die Rolle des Wissenschaftsmanagements oder der „akademischen Administration“ in der Diktion Loprienos. Bis heute scheint für Wolff schon die Definition dieses Bereichs nicht klar umrissen. Während die drei Dimensionen des universitären Handelns – Lehre, Forschung und Third Mission – allgemein konsensfähig seien, bleibe die Rolle des Wissenschaftsmanagements relativ offen. Hier tritt Wolff für ein integratives Denkmodell ein, dass die Verwaltung in Bezug zu diesen drei Bereichen setze, was eine genauere Differenzierung der Aufgaben ermögliche.

Bologna – Chance und Bürde zugleich

Als letzten Punkt nannte Wolff Bologna, wobei sie sich der aktuellen Abwägung modularer versus kumulativer Studienaufbau widmete. Dabei brach Wolff eine Lanze für aufbauende Studienstrukturen, da sie in der modularen Beliebigkeit gelegentlich auch eine Ausrede für das Fehlen eines klar strukturierten Aufbaus erkenne. Neben ihrem Plädoyer für das Propädeutikum bekräftigte Wolff, dass ein modularer Studienaufbau nicht in jedem Fach sinnvoll sei.

Die Übergänge von Bachelor zum Masterstudium sehe sie in vielen Bereichen gerade bei einem Wechsel der Universität kritisch. Es wurde aber auch deutlich, dass Wolff in Bezug auf den Bologna-Prozess nicht die Rolle der Kassandra einnehme. Sie sehe Bologna als einen externen Schock der Hochschullandschaft, der das System dynamisiere, die einzelnen Institutionen mit den ihnen innewohnenden Idiosynkrasien zur Diskussion und mehr Transparenz gezwungen habe. Vor dem Hintergrund der Freiheit des Studiums warnte Wolff vor einer „Bologna-Bulimie“, wo Inhalte in möglichst kleine Einheiten gepackt und so zum austauschbaren Gut würden. Sie plädiere für mehr Zutrauen in die Studierenden, was durch eine entsprechende Studiengestaltung gefördert werden könnte, etwas durch internationale oder interdisziplinäre Tracks. Loprieno und Wolff stimmten überein, dass es für das Gelingen des Bologna-Prozesses einen langen Atem aller Beteiligten brauche, auch um aus den Fehlern zu lernen.

Diskussion über Alternativen zum Wachstum

Die Diskussion wurde von Univ.-Prof. Dr. Günther R. Burkert, Visiting Professor an der Universität für Weiterbildung Krems, mit einer „Regel“ von Antoine de Saint Exupéry eröffnet: „Perfektion ist erst dann erreicht, wenn man nichts mehr weglassen kann.“ Dem entgegen stünde die „Add-on-Logik“ der Universitäten, die kontinuierlich wachsen und Institute neu gründen. Loprieno verwies dabei auf ein „typisches Problem des Universitätsverständnisses im deutsch-sprachigen Raum“, wonach auch kleine Fächer nur bestünden, wenn sie physisch durch ein eigenes Institut repräsentiert würden und vom Bachelor bis zur Dissertation die volle Bandbreite des Studiums angeboten werde. Studiengänge im Bachelor beispielsweise wegzulassen sei in einem Milieu der „rabiaten Aufrechterhaltung“ nicht möglich. Auch Wolff erkenne im Weglassen eine große Herausforderung für arrivierte Institutionen. Um diese dazu zu motivieren, bedarf es externer Leitplanken, die beispielsweise bei Re-Akkreditierungen zum Tragen komme. Auf höherer Ebene seien staatliche Neugründungen kleiner, hochspezialisierter Universitäten im Sinne eines systemischen Change-Managements Impulse zur Veränderung für Wolff denkbar. Univ.-Prof. Mag. Dr. Peter Parycek, MAS MSc nannte in diesem Zusammenhang die geplante TU Linz, von der noch nicht bekannt sei, ob diese organisational neuartig aufgestellt sein oder ob „more of the same“ herauskommen werde.

Fortsetzung im Juni

Nach der „vernetzten Universität“ und der „entzauberten Universität“ wird das Thema des dritten Teils, der für 22. Juni 2021, 18:00 Uhr, geplant ist, „Die vermessene Universität – Ziel, Wunsch und Wirklichkeit" lauten. Die Moderation wird wieder Rechtsinformatiker Peter Parycek, Leiter des Departments für E-Governance in Wirtschaft und Verwaltung, das die Onlineveranstaltung organisiert, übernehmen. Besonders erfreulich war, dass mit dem Thema der „entzauberten Universität“ wieder über hundert Interessierte angesprochen werden konnten sowie das positive Feedback von Vortragenden wie Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Webinars.

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