20.12.2022

Im Rahmen der 3. Diskussionsveranstaltung, zu der die im Dezember 2020 von der Universität für Weiterbildung Krems gegründete Denkwerkstatt CACE einlud, referierten und diskutierten am 1. Dezember 2022 Mairéad Nic Giolla Mhichíl, Markus Marti, Daniela Trani und Thierry Koscielniak über Micro-Credentials, Modularisierung in der Studienarchitektur, die Europäische Universität und die Metaversité.

In seiner Begrüßung unterstrich Mag. Friedrich Faulhammer, Rektor der Universität für Weiterbildung Krems und Initiator von CACE, die aktuelle Dynamik im Bereich Weiterbildung. Diese zeigt sich zum einen in der Novelle des Universitätsgesetzes 2002, die das Weiterbildungssystem an die Bologna-Reform anpasst, zum anderen auch im Ergebnis eines EU-Meetings der Staats- und Regierungschefs in Porto im Mai 2021, wonach bis 2030 mindestens 60 Prozent der Erwachsenen jedes Jahr Weiterbildungsmaßnahmen besuchen sollten. Weiterbildung und Wissenschaft spielen für Faulhammer, gerade in von Unsicherheiten geprägten Zeiten, eine noch wichtigere Rolle. Die immer komplexer werdenden Systeme und Zusammenhänge können insbesondere durch wissenschaftliche Weiterbildung besser genutzt und verstanden werden.

Neuer Trend Micro-Credentials

Assoc.-Prof.in Dr.in Mairéad Nic Giolla Mhichíl von der Dublin City University ging auf ein für die Individualisierung von Weiterbildungskarrieren wichtiges und relativ junges Element ein und stellte ihre Keynote unter den Titel „Making Waves with Micro-Credentials”. Was genau unter Micro-Credentials zu verstehen sei, wurde noch nicht vereinheitlicht, die Literatur biete zahlreiche Abgrenzungen. Einen wichtigen Beitrag lieferte für Mhichíl die Europäische Kommission 2022 mit ihrer Umschreibung: „Ein ‚Micro-Credential’ ist ein Nachweis über Lernergebnisse, den Lernende nach einem geringen Lernaufwand erworben haben. Diese Lernergebnisse werden anhand transparenter und klar definierter Kriterien bewertet.“ Diese weite Definition lässt sowohl an die an den Universitäten etablierten ECTS-Punkte denken, ist aber auch offen für andere Systeme, etwa aus Industrie und Wirtschaft. Die Beschäftigung mit Micro-Credentials ist nicht nur ein europäischer, sondern globaler Trend. Die Vorteile von Micro-Credentials – etwa maßgeschneiderte Weiterbildungs­einheiten, kostengünstiger Einstieg, individuelle Kombinationsmöglichkeiten – seien offensichtlich. Wichtig werde es sein, einen guten Ausgleich zwischen wirtschaftlichen Interessen und den Ansprüchen einer Hochschullehre zu finden. Die große Diversität an Anbietern und Programmen, was für Lerninteressierte sehr erfreulich ist, zeigt auf, dass noch nicht endgültig geklärt ist, wie die unterschiedlichen Micro-Credential-Systeme in eine umfassendere Lernökologie passen. In beiden Bereichen sieht Mhichíl derzeit eine gute Balance in Europa.

Micro-Credentials weiter denken

Die Verheißung individualisierter Weiterbildungskarrieren durch entbündelte Kurse sei attraktiv. Die Neuartigkeit des Ansatzes rege auch zu Fragen über die Zukunft unseres Verständnisses von Bildung an. Durch die Vielzahl an Anbietern dienten Micro-Credentials pluralistischen Zwecken und Zugängen, darunter auch wirtschaftlichen. Mhichíl erinnerte daran, dass Wert und Nutzen von Micro-Credentials über die bloße Weiterentwicklung von Fähigkeiten hinausgeht. Die Vorteile seien auch im öffentlichen Wohl, der Flexibilität für Studierende und beim zielgerichteten Lernen ersichtlich. Ob bzw. wie eine Einrichtung in das Thema Micro-Credentials einsteigen soll, setze einige Vorüberlegungen voraus: Warum sind Micro-Credentials für die Einrichtung sinnvoll? Welche Treiber dieser Entwicklung kommen in Betracht? Wie lassen sich Micro-Credentials in die bestehende Strategie einfügen? Exemplarisch präsentierte Mhichíl drei Micro-Credentials der Dublin City University, die unterschiedliche strukturelle Ausprägungen aufweisen, etwa mit bzw. ohne ECTS-Punkte und auf unterschiedlichen Leveln des europäischen Qualifikationsrahmens.

Mehr als die Summe ihrer Teile: Stackable Degrees

Nach dieser eingehenden Analyse einzelner Micro-Credentials beschäftigte sich Dipl. Informatik-Ing. ETH Markus Marti, Leiter Weiterbildung der School of Engineering an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, in seiner Keynote „The power of Stackable Degrees and modularization – concept, examples and success factors“ mit dem nächsten logischen Schritt, der Kombination von Micro-Credentials. Zunächst stellte er das Bildungs- und Weiterbildungssystem der Schweiz vor, das vier Optionen in der Weiterbildung bietet: Master of Advanced Studies (MAS), Diploma of Advanced Studies (DAS), Certificate of Advanced Studies (CAS) und Continuing Education Course (CEC). In diesem System bildet der CEC mit null bis neun ECTS-Punkten die kleinste Einheit. CAS umfassen zehn bis 15 ECTS-Punkte, DAS 30 bis 40 und der Master of Advanced Studies beinhaltet mindestens 60 ECTS-Punkte und eine Master-Thesis. Wie sich diese kleineren Einheiten zum Master verhalten, demonstrierte Marti an zwei Beispielen. Im Bereich Data Science werden fünf CAS zu je zwölf ECTS-Punkten angeboten, von denen sich drei zu einem Diploma of Advanced Studies zusammenfassen lassen. Dieses lässt sich wiederum zum MAS in Data Science ausbauen. Im Bereich Integrated Risk Management werden ebenfalls fünf CAS zu je zehn ECTS-Punkten angeboten, von denen drei das DAS ergeben. Werden die verbleibenden beiden CAS ergänzt und eine Master-Thesis – Umfang zehn ECTS-Punkte – verfasst, ist der Master of Advanced Studies erreicht.

Große Nachfrage bei Stackable Programs

Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (zhaw) führt aktuell fünf MAS, sechs DAS, 26 CAS und 23 CEC durch. Dass diese Möglichkeiten gut angenommen werden, zeigen die seit 2012 wachsenden Studierendenzahlen in diesem Bereich. Während beim MAS und dem DAS die Zahlen relativ konstant geringere Abweichungen aufweisen, wächst der CAS deutlich: von 168 Studierenden 2012 auf 870 im Jahr 2021. Bei der Durchführung kristallisierten sich fünf Erkenntnisse heraus: Im Vorfeld müsse das große Ganze bedacht werden, wenn neue Stackable Programs entwickelt werden. Gute Koordination und klare Abgrenzung der einzelnen Module trägt zum Erfolg ebenso bei wie das richtige Ausmaß an Wahlmöglichkeiten. Wenn ein Thema mit Unsicherheiten behaftet ist, sei es besser, mit kleinen Einheiten wie CEC oder CAS zu starten. Rabatte für das Buchen des ganzen Master-Studiums seien nicht zielführend. Zu den Vorteilen für die zhaw zählen die relativ einfache Modifizierbarkeit der Programme und die vereinfachte Kooperation mit anderen Departments oder Universitäten.

Wege zur Europäischen Universität

Stackable Programs sind ein Weg, um die (Weiter-)Bildungserfahrung zu personalisieren. Dr.in Daniela Trani, Direktorin von Young Universities for the Future of Europe (YUFE), präsentierte ihren Ansatz individualisierter Curricula im Kontext der Europäischen Universität. Eingangs erläuterte Trani die Initiative „Europäische Hochschulen“, die auf einen Gipfel der Staats- und Regierungsspitzen der EU 2017 in Göteborg zurückging und eine Leitinitiative der europäischen Hochschulstrategie ist. „Europäische Universitäten“ sind transnationale Allianzen. Sie sollen den Weg zu den Universitäten der Zukunft weisen, europäische Werte und Identität fördern und die Qualität und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Hochschulbildung revolutionieren. Verschiedene Kooperationsmodelle für Europäische Universitäten werden über die Schiene Erasmus+ unterstützt. 2019 war unter den ersten 17 dieser ausgewählten Erasmus+-Einreichungen YUFE. Das YUFE-Pilotprojekt umfasst zehn Universitäten und vier nicht-akademische Organisationen aus 15 Städten in elf Ländern. Zu den Zielen von YUFE zählt die Entwicklung einer studierenden­zentrierten, inklusiven Europäischen Universität, die allen offensteht. Diese soll Studierenden, Mitarbeiter_innen und den Bürger_innen individualisierte, flexible Wege im Bereich des lebensbegleitenden Lernens und der Karriere bieten. Dabei gilt der Fokus interdisziplinären und sektorübergreifenden Kenntnissen und Fähigkeiten. Der Abbau von Barrieren zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kontexte und Kulturen in ganz Europa ist ein weiteres Ziel.

Das YUFE-Konzept

Um diese Ziele zu erreichen, beinhalten die offenen Programme von YUFE neben akademischen Kursen auch Sprachtraining, professionelles Training mit Fokus auf unternehmerische und kreative Denkweise sowie gesellschaftliches Engagement. Zudem ist Mobilität eine Säule des Programms. Das Konzept besteht aus YUFE Minors, die bestehende und neue Kurse bündeln, sowie YUFE Bachelor(s), die aus der Kombination von YUFE Minors entstehen und zu einem joint degree bzw. European degree führen. Aufgrund der Pandemiesituation priorisierte YUFE erfolgreich das Projekt Virtual Campus, wodurch Fortschritte erreicht wurden, die keiner der Partner alleine geschafft hätte. Diese Erfolge wurden unterstützt durch die Förderung von bottom-up Co-Creation in allen Phasen und der Unterstützung des kollegialen Austauschs und gegenseitigen Lernens. So wurde bei Teams auf enge Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis geachtet. Strukturell erwies sich die Identifikation von Multiplikatoren auf verschiedenen Ebenen als zielführend. Für 2030 sollen die Ergebnisse konsolidiert und die Mission geschärft werden, zudem sind Anpassungen bei der Zusammenstellung der Allianz geplant.

Omnes docet ubique neu gedacht

Während bei YUFE im Bereich der Mobilität auch physisches Reisen erforderlich ist, widmete sich Thierry Koscielniak, PhD, Chief Digital Officer des Conservatoire national des arts et métiers (Cnam), den Chancen der Metaversité, ausgehend von der Frage „Is it possible to teach and learn as an avatar?“. Nach einem kurzen Abriss der langen Geschichte des Cnam verwies er auf das Motto, das unter technologischem Gesichtspunkt neue Aktualität erlangt: Omnes docet ubique, frei übersetzt „Bildung für alle und überall“. Der Einsatz neuer Technik hat bei Cnam Tradition, so erfolgte etwa 1965 die erste Aufnahme und Übertragung einer Vorlesung in Hörsäle und das Fernsehprogramm. Mit seinem Schwerpunkt bei berufsbezogenen Studien zählt Cnam 52 000 Studierende weltweit.

Brückenschlag zwischen VR und der Wirklichkeit

Mit Partnern aus der Wirtschaft gründete Cnam France Immersive Learning. In diesem Rahmen wird unter anderem erforscht, wie virtuelle Realität (VR) in der praktischen chemischen Laborarbeit oder bei der Kernphysik zur Anwendung kommen kann. Eine Anwendungsmöglichkeit im Labor ist etwa „360° Vision“, wo Versuchsanordnungen mit Erklärungstexten begehbar sind. Nach solchen Einheiten stellte sich bei Lernenden ein Déjà-vu ein, was für die Wirksamkeit der Erfahrung spricht. Bei der Nuklearforschung können Experimente simuliert werden, die anders nicht möglich wären, etwa die Messung der Radioaktivität an einem Kernreaktor. Im Projekt „JENII“ (kurz für Jumeaux d'Enseignement Numériques Immersifs et Interactifs), wird an der Weiterentwicklung solcher Szenarien geforscht. Es zielt darauf ab, ein Fernschulungsangebot über immersive und kollaborative Umgebungen zu entwickeln, in denen mit digitalen Zwillingen realer Industriesysteme gearbeitet wird. In diesem Projekt sollen physische und digitale Lernpfade entwickelt und verbessert werden. Passend dazu werden auch physische und digitale Trainingsumgebungen erstellt. Aktuell wird VR als Plattform für die Zusammenarbeit genutzt. Als der Perseverance Rover der NASA am Mars landete, wurde das Ereignis auch am virtuellen Mars gefeiert und erfahrbar gemacht. Die Konzepte für die Métaversité, die gerade ausgearbeitet werden, sehen open source, offene Austauschformate und Standards für die Interoperationalität unterschiedlicher Systeme vor. Beim Metaverse dürfte die Entwicklung ähnlich dem Internet verlaufen: Es wird nicht „das eine“ Metaverse geben, sondern viele parallel, vergleichbar den heutigen Webseiten.

Mit seinen Breakout Sessions und der abschließenden Diskussion der Keynote Speaker, die von Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Stefan Oppl, MBA, Professor für technologiegestütztes Lernen am Department für Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien an der Universität für Weiterbildung Krems, geleitet wurde, bot die Assembly Beyond Borders reichliche Gelegenheit zum fachlichen Austausch. Die vor- und nachmittäglichen Breakout Sessions wurden genutzt, um in Gruppen Fragen für die Panel Disussion zu formulieren und zu sammeln – unterstützt wurden diese Erarbeitungsphasen durch ein zur Verfügung gestelltes Graphic Recording zu den gerade gehörten Keynotes. Zusätzlich wurde Mentimeter eingesetzt, um Erfahrungen und Meinungen des Publikums einzufangen und für alle sichtbar zu machen.

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