Das Department für Rechtswissenschaften und Internationale Beziehungen der Universität für Weiterbildung Krems und das am Department angesiedelte Europäische Dokumentationszentrum (EDZ) starteten am 8. Oktober 2021 mit der hybriden Diskussionsveranstaltung „Der Brexit und seine Folgen – eine erste Bilanz“ für Studierende und Interessierte ins neue Studienjahr 2021/22.
20 Monate nachdem das Vereinigte Königreich mit 31. Jänner 2020 aus der Europäischen Union ausgetreten ist und neun Monate nachdem es nach Ablauf der Übergangsperiode am 31. Dezember 2020 auch den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen hat, beleuchtete die Veranstaltung verschiedene Brexit-Auswirkungen für die EU, das Vereinigte Königreich und auch Österreich. Ass.-Prof. Dr. Gabriel M. Lentner, stellvertretender Leiter des Departments sowie wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Dokumentationszentrums (EDZ), eröffnete die Veranstaltung auch mit Verweis auf die neu geschlossene Partnerschaftsvereinbarung des EDZ mit der Europäischen Kommission. Das EDZ fungiert als Brücke zwischen der EU und der Universität und wird sich künftig vermehrt der öffentlichen Diskussion von EU-Themen widmen.
Mit S.E. Leigh Turner, britischer Botschafter in Österreich von 2016 bis September 2021, und Landesrat Martin Eichtinger, früherer Botschafter Österreichs im Vereinigten Königreich von 2015 bis 2018, konnten hochrangige Experten aus der Diplomatie und profunde Kenner der Brexit-Hintergründe als Podiumsgäste gewonnen werden. Unter der Moderation der operativen Leiterin des EDZ, MMag. Susanne Fraczek, teilten zunächst Botschafter Turner und Landesrat Eichtinger in ihren Impulsvorträgen ihre jeweiligen Befunde zu den Gründen und Folgen des Brexits sowie ihre persönlichen Erfahrungen.
EU-Entscheidungen näher an die Menschen bringen
Die Folgen des Brexits beschäftigten Leigh Turner während seiner gesamten Funktionsperiode als Botschafter in Wien, etwa der Status von britischen Staatsbürger_innen in Österreich und von Österreicher_innen in UK oder die Auswirkungen auf Handel, Kultur, Bildung. In seinem Vortrag ergründete er die Faktoren, die zum Brexit geführt haben, und verwies zum einen auf Mängel in der Entscheidungsfindung der EU: Es bestehe eine „Spannung zwischen Entscheidungsträgern, die glauben zu wissen, was für die EU richtig ist, und der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten. Der Brexit hat uns dies gezeigt“, so Turner. Zum anderen gebe es in Großbritannien eine grundlegend andere Sicht auf den Wert der europäischen Integration und von Sicherheit vs. Risiko, die ebenso wie die emotionalisierende Wirkung der Sozialen Medien eine Rolle im Brexit-Referendum 2016 gespielt hätten.
In der Beurteilung der gegenwärtigen Situation in UK gebe es unterschiedliche Auffassungen dazu, wie diese mit dem Brexit zusammenhänge – es herrsche eine starke Polarisierung, eine wirkliche Debatte fehle hingegen. Die Wirtschaft wachse noch sehr stark: Prognosen gingen für 2021 von 6,8 Prozent und für 2022 von 5,5 Prozent Wachstum aus. Für Brexit-Gegner ließe sich aber schon erkennen, wie der Brexit vieles schwieriger und komplizierter gemacht habe. Weitere EU-Austritte hielt Turner aufgrund der speziellen Situation in seinem Land für unwahrscheinlich, was die EU aber nicht davon entbinde, die Gründe für den Brexit genau zu analysieren.
Hoffen auf weitere Kooperation mit Großbritannien
Landesrat Martin Eichtinger erinnerte an die anspruchsvollen Austrittsverhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Das daraus resultierende Handels- und Kooperationsabkommen hält er für gut, da es Zugang von Waren und Dienstleistungen, die ihren Ursprung in Großbritannien haben, in den europäischen Binnenmarkt ermögliche. Generell hoffe Eichtinger, dass Großbritannien von der EU nicht zu stark wegdrifte, auch wenn das Vereinigte Königreich mittlerweile für die EU ein Drittstaat sei. Dem von Leigh Turner angesprochenen Bedarf an Reformen innerhalb der EU pflichtete Eichtinger bei, Großbritanniens Ruf nach Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit werde in der EU fehlen.
Auch ihn habe als Botschafter in London die Absicherung der Rechte der Österreicher_innen in Großbritannien und umgekehrt der britischen Bürger_innen in der EU und konkret in Österreich sehr beschäftigt. Dieser wichtige Aspekt sei im Austrittsvertrag gut behandelt worden. „Von den ca. 35.000 österreichischen Staatsbürger_innen im Vereinigten Königreich haben bis zum Sommer diesen Jahres 23.000 den „settled status“ erworben. Dies bedeutet die rechtliche Gleichstellung bis an ihr Lebensende mit britischen Bürger_innen“, so Eichtinger.
Viele rechtliche Fragen noch offen
Die an die Impulsreferate anschließende Diskussion wurde von Univ.-Prof. DDr. Thomas Ratka, LL.M., Leiter des Departments für Rechtswissenschaften eröffnet, der den Austritt Großbritanniens aus dem Erasmus-Programm und dessen für die Universitäten und Studierenden schmerzlichen Effekt aufgriff. Immerhin seien die Erfahrungen, die Studierende während ihrer Zeit in UK machten, und das positive Bild des Landes, das sie danach in die Welt trügen, „mit Geld gar nicht aufzuwiegen“, so Ratka in Anspielung auf das Kostenargument der britischen Regierung. Auch Eichtinger und Turner bedauerten den Ausstieg Großbritanniens aus dem Erasmus-Programm.
Weiters verwies Unternehmensrechtsexperte Ratka auf einige Defizite im Handels- und Kooperationsabkommen: der Status von Gibraltar und die Geltung der Grundfreiheiten. Als ein äußerst wichtiger offener Punkt wurde das vielfach kritisierte Nordirland-Protokoll angesprochen. Botschafter Turner betonte, dass es im Interesse von Großbritannien, Irland und der EU liege, keine harte Grenze auf der irischen Insel zu errichten.
Aus dem Publikum kamen zahlreiche Fragen zur Spaltung der britischen Gesellschaft, Schottlands Autonomiebestrebungen im Lichte des Brexits sowie der globalen Rolle Großbritanniens und der EU, die ein wichtiges Mitglied nicht nur von wirtschaftlichem, sondern auch militärischem Gewicht verloren hat.
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