Digitalisierung, Partizipation, Regionalität: Wenn Expert_innen über die Wirkungen der Pandemie auf die Kultur sprechen, kommen diese drei Themen immer wieder zur Sprache. Aber wie stark wird sich der Betrieb wirklich ändern?

Von Nina Schedlmayer

Die Schreckstarre hielt nicht lange an. Kurz nachdem im März 2020 auch in Österreich ein Lockdown verkündet wurde, von dem man noch nicht wusste, dass er nur der erste von mehreren sein würde, ging es los: Autor_innen lasen ihre Texte einem Online-Publikum vor, Schauspieler_innen performten im virtuellen Raum, Maler_innen präsentierten ihre Werke in Auslagen, Sänger _innen schmetterten ihre Arien von Balkonen, und ein Verein kam auf die geniale Idee, Kulturveranstaltungen in einer Peepshow zu organisieren: Wer etwa eine Lesung der Schriftstellerin Doris Knecht hören wollte, konnte dieser, pandemiekonform ganz allein in einer Kabine, lauschen. Viele Kunstschaffende ergaben sich also nicht dem pandemiebedingten Berufsverbot, sondern fanden Auswege – mit denen sie zwar kaum Einnahmen generierten, doch immerhin Präsenz zeigten. Von Stillstand keine Rede.

Nun, eineinhalb Jahre später, stellt sich freilich die Frage: Wie wird es weitergehen? Was hat der Kunst- und Kulturbetrieb gelernt aus der Pandemie, die das gesellschaftliche Leben so schnell auf den Kopf stellte? Hat er überhaupt etwas gelernt? Oder bleibt ohnehin alles beim Alten?

Erste Beobachtungen pendelten zwischen Idealisierung und Düsterkeit. Der Künstler und Medientheoretiker Peter Weibel verkündete eine glorreiche Zukunft. Der Kulturbetrieb, so erzählte er im deutschen Wirtschaftsmagazin „brand eins“, pflege „nostalgisch die Illusion der Nähe. Dass das in der Pandemie mit Karacho implodiert, ist großartig“. Schließlich sei die „angeblich authentische Begegnung mit dem angeblich einmaligen Kunstwerk im Museum“ nichts weiter als eine „Art Religionsersatz“. Jedes geschlossene Museum sei daher ein Geschenk an die Kunst. Andere Stimmen befürchteten, dass sich die Leute die Kunst durch deren Entzug regelrecht abgewöhnen würden. Und Klaus Albrecht Schröder, Direktor der Wiener Albertina, konstatierte schlicht: „Die Krise ist keine Chance.“ Doch wie üblich ist die Lage etwas verzwickter.

„Der Kulturbetrieb der letzten Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte war alles andere als innovationsfreundlich.“

Paul Gessl

Katalysator Pandemie

Eines scheint klar: Die Pandemie zeigte vieles auf, was zuvor zwar schon vorhanden, aber noch nicht so drastisch ins Bewusstsein vorgedrungen war. Der Soziologe Tasos Zembylas beobachtet seit Jahrzehnten den Kulturbetrieb. Er sagt: „Die Pandemie war ein Katalysator. Schon seit etwa 20 Jahren war eine Marginalisierung der Kultur im politischen Diskurs zu beobachten. Die Pandemie hat diese bewusster gemacht.“ Bisher habe die Politik die Kultur noch in Sonntagsreden beschworen. „Jetzt stellte sich heraus: Sie gilt als systemirrelevant.“ Gerade der Begriff der „Systemrelevanz“ in der Coronakrise störte ihn: „Für mich ist der Begriff des ‚Systems‘ sehr technisch-formell. Wer ihn einsetzt, ignoriert Lebensqualität, also Well-being. Doch auch dafür ist die Kultur da.“ Eva Maria Stöckler, Musikwissenschaftlerin und Leiterin des Departments für Kunst- und Kulturgeschichte an der Universität für Weiterbildung Krems, sieht es ähnlich: „Viele Probleme wurden sichtbar, die es schon zuvor gab“ (siehe Interview S. 15).

Einen großen Bruch möchte allerdings kaum jemand in der Pandemie sehen. Doch es zeigten sich Notwendigkeiten, die nun noch dringlicher werden. Der Umgang mit Digitalisierung, Partizipation und der Klimakrise stellte den Kulturbetrieb schon vor der Pandemie vor Herausforderungen.

Paul Gessl kann das unterstreichen. Als Geschäftsführer der Niederösterreichischen Kulturwirtschaft (NÖKU) ist er für rund 30 Kulturbetriebe zuständig, kleine wie große. Er zieht ein durchaus selbstkritisches Resümee: „Der Kulturbetrieb der letzten Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte war alles andere als innovationsfreundlich. Bei der Organisations- und Prozessentwicklung hat der Kulturbetrieb seine Leadership verloren. Wir dachten immer, unser Publikum ist zu alt, um bei digitalen Entwicklungen mitzuhalten. Das stimmt aber nicht.“ Themen wie mobiles Arbeiten, Contact-Tracing, Online-Ticketing und -Marketing hätten nun in der Krise an Wert gewonnen. Entwicklungen, die ohnehin längst fällig gewesen wären, hätten sich dadurch beschleunigt, so Gessls Befund.

Wirkt die Pandemie etwa als Booster? Nicht nur der Umgang mit digitalen Medien, auch jener mit dem Publikum kam noch stärker auf den Prüfstand. Schon vor 2020 debattierten Fachleute darüber, dass die Institutionen sich nicht mehr damit zufriedengeben können, ein bildungsbürgerliches Publikum anzusprechen: Im 21. Jahrhundert kann nicht der 50-jährige weiße Akademiker, der sich nach einem Arbeitstag ins Burgtheater setzt, das Maß aller Dinge sein. Die Gesellschaft ist bunter.

Sabine Haag, Generaldirektorin des Kunsthistorischen Museums (KHM), befasste sich bereits zuvor mit „Audience Development", also Maßnahmen zum Erreichen neuer Publikumsschichten. Das KHM, bis 2020 vorwiegend von einem touristischen Publikum besucht, wollte bereits zuvor stärker Besucher_innen vor Ort ansprechen – was bis dahin allerdings eher mittelmäßig gelang. Über die Krise sagt Haag: „Es stellte sich heraus, wie unverzichtbar Kunst und Kulturinstitutionen für die Gesellschaft sind, und auch für die nationale Identität – egal, ob sie groß oder klein sind.“ Darüber hinaus habe sich gezeigt, „dass wir noch stärker die Bevölkerung involvieren und Partizipation fördern müssen. Die hehren Musentempel, die sich als Horte der Schönheit oder des Wissens von der Gesellschaft abschotten, gehören endgültig der Vergangenheit an“. Die Kulturinstitutionen seien nun gefordert, diese Entwicklungen voranzutreiben: „Nun können sie ihren Platz in der Gesellschaft mit spannenden Fragestellungen und offeneren Formaten ausbauen.“

„Die hehren Musentempel, die sich als Horte der Schönheit oder des Wissens von der Gesellschaft abschotten, gehören endgültig der Vergangenheit an.“

Sabine Haag

Diversity und Fair Pay

Wenn man von Kunst und Kultur spricht, lautet die Frage aber auch: Müsste man nicht viel stärker differenzieren? Wie ging es einzelnen Kulturinitiativen oder Kunstschaffenden? War nicht eine Musikerin ganz anders von den Lockdowns betroffen als ein Maler, ein Schauspieler stärker als eine Schriftstellerin? Weil Leute im Lockdown ungern auf weiße Wände starren, hatten etwa manche bildende Künstler_innen sogar bessere Einnahmen als in den Jahren zuvor. Einer Sängerin, einem Orchestermusiker oder einer Performerin dagegen brachen plötzlich ihre Existenzgrundlagen weg, manchmal nur rudimentär und vor allem viel zu spät aufgefangen durch Unterstützungsleistungen der öffentlichen Hand. Auch Musikwissenschaftlerin Stöckler schildert im Interview die schwierige Situation vieler.

Andererseits dürfte gerade dieser verschärfte Zustand zu einer Solidarisierung im Kunstbetrieb geführt haben. Maria Christine Holter, freie Kuratorin und Kunstberaterin, erzählt: „Man musste einander in der Pandemie gegenseitig unter die Arme greifen, sich beispielsweise darüber austauschen, wo man um Förderungen ansuchen kann.“ Sie beobachtete ein „Wohlwollen und eine Wertschätzung, die ich früher vermisst habe“.

Nun kann man nicht behaupten, dass die Kulturpolitik gänzlich untätig gewesen wäre. Sie stellte unterschiedliche Hilfen zur Verfügung, etwa Arbeitsstipendien oder, für Betriebe mit Angestellten, die Kurzarbeit. Wäre es nicht zielführend, diese Instrumente zu analysieren und zu überlegen, welche weiterhin sinnvoll wären? Nicht erst seit 2020 leiden viele im Kulturbetrieb unter prekären Arbeitsbedingungen – in einem Land, das sich als Kulturnation verkauft. Soziologe Zembylas sieht die Unterstützungsleistungen differenziert: „Jedes Instrument erreicht nur eine bestimmte Gruppe – Arbeitsstipendien etwa nur Künstler_innen, die allein produzieren, allerdings nicht Ensembles oder Filmcrews. Man braucht eine kluge Mischung an Förderinstrumenten, um der Diversität des Feldes gerecht zu werden.“ KHM-Direktorin Sabine Haag meint mit Blick auf kleinere Institutionen: „Alles, was an verstetigter Unterstützung geschaffen wird, was über eine einmalige Ausgleichszahlung hinausgeht, ist gut – auch was einzelne Künstler und Künstlerinnen betrifft. Fair Pay ist kulturpolitisch ein wichtiges Thema.“

Kulturvereine, die freie Szene, junge Kunstschaffende: Sie sind der Humus für das gesamte Kulturleben. Schließlich fängt kein Schauspieler im Burgtheater, keine Bildhauerin in der Albertina an. Außerdem leisten gerade kleinere Strukturen das, was die großen Häuser nun als ihre Aufgabe erkannt haben: Sie involvieren andere Bevölkerungsgruppen, sind gesellschaftlich breiter aufgestellt.

Tasos Zembylas unterscheidet zwischen dem kommerziellen Bereich, den großen Institutionen und einem zivilgesellschaftlichen Feld. „Im kommerziellen Bereich verliert die Kunst ihr transformatives Potenzial – Galerien müssen sich beispielsweise bestimmten Marktzwängen anpassen. Das lenkt ihr Handeln.“ Die großen öffentlichen Institutionen seien grundsätzlich offener und sogar gezwungen, kritische Kunst zu integrieren. „Allerdings sind sie zu nahe an der Politik und selbst hierarchische Organisationen, in denen es etwa exorbitante Einkommensdifferenzen gibt. Damit bilden sie die gesellschaftliche Ungleichheit ab.“ Kritisch-utopisches Potenzial ortet er am stärksten im zivilgesellschaftlichen Bereich, also bei lokalen, partizipativen Initiativen und Ansätzen. „Dieses Feld wird aber klein gehalten durch die Asymmetrie der Förderungen, die so groß ist, dass der Staat eine Wettbewerbsverzerrung in Kauf nimmt.“ Aus diesem Grund könne dieser Bereich nicht wachsen. Und in Zukunft? „Wenn die EU eine Budgetkonsolidierung erzwingt, was heißt das für die nächsten Jahre? Dann werden wieder die Kleinen draufzahlen.“

Grenzen des Digitalen

Andererseits stellte sich gerade in der Krise das Kleinteilige, Lokale, Regionale als Rettungsanker heraus. Kuratorin Holter organisierte eine Freiluftausstellung des Künstlers Olaf Osten im 9. Wiener Bezirk. „Das wurde sehr gut angenommen“, erzählt sie. „Trotz des Schlechtwetters sind viele Leute durchflaniert und haben die Kunst betrachtet.“ Gerade in der Pandemie konnten ihr zufolge kleine Strukturen besser weiterarbeiten als die großen Tanker. Das erkenne nun auch die Kulturpolitik. „Die Sensibilität dafür, dass die Kleinen das Werkl am Laufen halten, ist gestiegen.“ Ihr Fazit: „Inklusion und Outreach sind wichtige Themen der Zukunft. Die Kunst vermittelt sich nicht von selbst. Wir müssen raus aus unserer Blase.“ Eine ähnliche Beobachtung machte Stöckler. Partizipative Ansätze, etwa wenn Laien mit Profis auftreten, werden ihrer Einschätzung nach an Bedeutung gewinnen: „Das halte ich für sehr wichtig – auch, wenn es darum geht, nach der Pandemie die Konzertsäle wieder zu füllen.“

„Die Sensibilität dafür, dass die Kleinen das Werkl am Laufen halten, ist gestiegen.“

Maria Christine Holter

Welche Rolle, abseits von Marketing und Ticketing-Unterstützung, können dabei digitale Formate spielen, die in der Pandemie mit der Zeit dann doch vielen auf die Nerven gingen? Holter: „Es wurden jetzt neue Formate entwickelt, etwa virtuelle Talks und Studioführungen. Doch nicht alles lässt sich ins Digitale transportieren.“ Sie selbst organisiert seit 1998 eine Gesprächsreihe mit dem Titel „In situ“, wo sie ein interessiertes Publikum in Ateliers lädt. „Diese Veranstaltungen, bei denen man gemeinsam schaut, spricht, auch isst und trinkt: Das ist digital nicht sinnvoll machbar.“ Ähnlich in der Musik: „Digitale Medien sind ganz nett, können aber Livemusik nicht ersetzen“, so Stöckler. Die Zukunft liegt wohl eher in einer Mischung aus analogen und digitalen Vermittlungsformaten. Wie diese aussehen könnten, kann man demnächst auch an der Universität für Weiterbildung Krems studieren: Aus einem – pandemiebedingten – Symposion zu digitalen Medien im Museum entstanden Lehrgänge zu digitalem Kuratieren und digitaler Kulturvermittlung.

Digitalisierung, Inklusion, Partizipation, Regionalität: Themen, die bereits vorher am Tapet waren, rücken nun stärker in den Fokus. Wenn die Verantwortlichen die Signale erkennen und die Erkenntnisse der Jahre 2020 und 2021 klug nutzen: Dann könnte sich doch einiges wandeln.

Nina Schedlmayer ist Chefredakteurin der Kultur-Zeitschrift „morgen“.


PAUL GESSL
DI Paul Gessl ist seit 2000 operativer Geschäftsführer der NÖKU-Holding, der Niederösterreichischen Kulturwirtschaft GesmbH, die mehr als 30 künstlerische und wissenschaftliche Institutionen unter ihrem Dach vereint, darunter das Landestheater Niederösterreich, die Kunsthalle Krems und Grafenegg.

TASOS ZEMBYLAS
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Tasos Zembylas ist Professor für Kulturbetriebslehre an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Er forscht und publiziert zu Kulturpolitik und künstlerischen Schaffensprozessen.

SABINE HAAG
Die Kunsthistorikerin Dr.in Sabine Haag ist seit 2009 als Generaldirektorin des KHM-Museumsverbandes nicht nur für das Kunsthistorische Museum in Wien, sondern für zahlreiche weitere Häuser – darunter das Weltmuseum, das Schloss Ambras sowie das Theatermuseum – verantwortlich.

MARIA CHRISTINE HOLTER
Maria Christine Holter ist Kunsthistorikerin, Kuratorin und Programmgestalterin für Gegenwartskunst. Zudem berät sie Unternehmen in Sachen Kunst, ist Autorin zahlreicher einschlägiger Publikationen und arbeitet im Bereich der Kunstkommunikation.

EVA MARIA STÖCKLER
Dr.in Eva Maria Stöckler leitet das Department für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Universität für Weiterbildung Krems und das Zentrum für Angewandte Musikforschung. Sie studierte an der Universität Salzburg und der JAM Music Lab Private University Wien.

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