Spielerische Ansätze ermöglichen eine neue Art der Kunst- und Kulturvermittlung und können nur schwer erreichbare Zielgruppen ansprechen.

Von Valentine Auer

Ein Drittel aller in Österreich lebenden Menschen spielt Computerspiele. 60 Prozent von ihnen mehrmals pro Monat. In Ego-Shootern zielen sie auf ihre Gegner. In „Minecraft“, einer Art digitalisiertem Lego, erschaffen sie sich eigene Welten. Am Weg zur Arbeit spielen sie „Candy Crash Saga“ und lösen digitale Puzzles am Smartphone.

Digitale Spiele sind ein Massenmedium. Davon ist der Historiker und Spieletheoretiker Eugen Pfister überzeugt. Sie können unterschiedliche Ziele verfolgen und verschiedene Gruppen begeistern. Ein Fakt, der im Kunst- und Kulturbereich erst langsam ankommt: Während Ausstellungskataloge und audiovisuelle Medien als zusätzliche Elemente in der Vermittlungsarbeit Normalität sind, steckt der Einsatz von digitalen, aber auch von analogen Spielen noch in den Kinderschuhen. Dabei können Spiele helfen, Kinder und Jugendliche sowie soziale Gruppen, die mit Kunst und Kultur nur wenig in Kontakt kommen, anzusprechen.

„Computerspiele lösen andere Massenmedien gerade ab, nicht vollständig aber zumindest teilweise. Während ich in meiner Kindheit noch die Sozialisierung per Fernsehen erlebt habe, sind Computerspiele heute die dominantere Kulturpraxis. Wir sollten nicht den Moment verpassen, uns damit auseinanderzusetzen. Computerspiele sind kein Nebenthema mehr“, fasst Pfister die Wichtigkeit von digitalen Spielen zusammen.

Eintauchen in eine neue Welt

Wieso sich auch die Kunst- und Kulturszene mit diesem Massenmedium auseinandersetzen sollte, zeigen Good-Practice-Beispiele: Wenn die britische „Tate Gallery“ Bilder wie André Derains „The Pool of London“ oder Christopher Nevisons „The Soul of the Soulless City“ durch Minecraft zum Leben erweckt, geht es nicht darum, Farbschattierungen oder Pinselstriche der Kunstwerke zu bestaunen. Stattdessen können sich die Spieler_innen in die Kunstwerke selbst begeben, erleben nicht nur die Geschichte hinter den Kunstwerken, sondern das London aus dem Jahre 1906 oder das New York der 1920er Jahre.

Anders ausgedrückt: Spielen ermöglicht Immersion. Das Eintauchen in eine neue Welt. „Das Publikum wird ganz anders aktiviert“, erklärt Pfister und spricht dabei nicht nur als Spieletheoretiker, sondern von seinen eigenen Spielerfahrungen; zum Beispiel, wenn er im Spiel „Through The Darkest of Times“ eine Widerstandsgruppe im Berlin der 1930er organisiert: „Das Spiel zwingt dich, Selbstverantwortung zu übernehmen. Ich hatte das Gefühl, dass ich verantwortlich für meine Kameraden und Kameradinnen in der Widerstandszelle bin. Ich trug die Verantwortung dafür, ob sie überleben oder nicht, ob ihre Familie gefährdet ist oder nicht.“

Nicht die Vermittlung von Fakten zum Nationalsozialismus und dem Widerstand dagegen steht im Mittelpunkt dieses Simulationsspiels, sondern die intensive Erfahrung, die von jeder Person individuell durchlebt wird. Eine Erfahrung, die das Potenzial hat, Menschen nachhaltig für Erinnerungskultur zu interessieren und sensibilisieren. Zwar gibt es zahlreiche Ego-Shooter, bei denen Nazis die Gegner sind, dennoch ermöglicht das Spiel eine neue Erfahrung. Das zeigt sich auch an der Entscheidung der „Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle“ (USK), die mit „Through The Darkest of Times“ erstmals ein Computerspiel mit Hakenkreuzen ab 12 Jahren freigibt und es damit Jugendlichen zugänglich macht.

Archivarin spielen

„Mit spielerischen Ansätzen werden Themen erlebbar, verständlicher, begreifbarer und zugänglicher“, fasst Natalie Denk die Möglichkeiten von Spielen in der Kunst- und Kulturvermittlung zusammen – und das geht auch analog. Denk ist Leiterin des Zentrums für Angewandte Spieleforschung an der Universität für Weiterbildung Krems. Gemeinsam mit ihren Kollegen Simon Wimmer und Nikolaus König ist sie für den neu entstandenen Escape Room „Der Traum der Archivarin“ verantwortlich, der in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Zeitgenossen – angesiedelt an der Universität für Weiterbildung Krems – entstand.

Eine Stunde lang schlüpfen die Spieler_ innen dabei in die Rolle einer Archivarin. Vor Ort blättern sie Vor- und Nachlässe durch, die sich mit den Schriftstellern Peter Turrini und Julian Schutting oder mit dem Komponisten Friedrich Cerha beschäftigen. Sie arbeiten mit neuen Medien genauso wie mit alten Medien, lernen Tonbandgerät oder Schreibmaschine kennen. Vor allem entdecken sie die Archivarbeit, während sie spielerisch Rätsel lösen.

(Keine) Wissensvermittlung durch Spiele

Ein weiteres Beispiel, das zeigt, wie Spiele Wissen vermitteln können. Wobei: „Oft wird versucht, die ganze Wissensvermittlung in ein Spiel zu packen. Das ist allerdings nicht die Stärke von Spielen“, sagt Natalie Denk.

Ihr Kollege Nikolaus König präzisiert: „Was Spiele sehr gut können, ist Zugänge zu vermitteln. Wenn ich heute lerne, wie viele Sätze ein bestimmtes Musikstück von Friedrich Cerha hat, erinnere ich mich vielleicht ein oder zwei Tage an dieses Wissen. Wenn ich mich aber eine Stunde lang spielerisch damit beschäftige, was Archivarbeit bedeutet, nehme ich diese Erfahrung mein ganzes Leben lang mit. An diesem Punkt können Spiele ansetzen“, fährt König fort.

Dem Publikum diese neue Erfahrung zu ermöglichen, ist das Eine. Das Publikum überhaupt in das Archiv oder in ein Museum zu locken, das Andere. Auch dabei kann der Einsatz von Spielen helfen. „Mit dem Escape Room bemühen wir uns, das Archiv der Zeitgenossen als Sammlung mit Beständen lebender Künstler bekannter zu machen“, erklärt Christine Rigler. Rigler ist Leiterin des Archivs für Zeitgenossen und bemüht sich, mit dem Experimentieren mit unterschiedlichen Vermittlungsformen nicht nur das Archiv selbst, sondern die Wichtigkeit von Archiven und Archivarbeit bekannter zu machen.

Entwicklung neuer Erzählformen

Es gibt sie also: Beispiele, die zeigen, wie spielerische Kunst- und Kulturvermittlung funktionieren kann. Doch tatsächlich treffen Spieleentwickler_innen noch vielfach auf Widerstand. Das Thema sei zu wichtig, heißt es oft vonseiten der Kunst- und Kulturvermittler_ innen. „Die europäischen Ideen von Ernst und Unterhaltung prallen hier aufeinander. Kultur wird als etwas Ernstes verstanden und Spiele als Unterhaltung“, so König.

Während es in anderen Massenmedien wie in Filmen oder Büchern nichts Neues ist, dem Publikum unterschiedliche Inhalte zu vermitteln, muss das im Bereich der Spiele erst erprobt werden. „Es ist ein Lernprozess, der gerade stattfindet. Es wird versucht, eine neue Sprache zu finden, die den Spielerinnen und Spielern eine Lernerfahrung ermöglichen kann“, erklärt Pfister.

„Oft wird versucht, die ganze Wissensvermittlung in ein Spiel zu packen. Das ist allerdings nicht die Stärke von Spielen.“

Natalie Denk

Mehr noch: Die Zusammenarbeit von Spieleentwickler_innen und Kulturvermittler_innen birgt die Möglichkeit, dass sich diese neu entwickelten Erzählformen auf die Spielewelt auswirken. „Wenn eine Sprache für die Vermittlungsarbeit entwickelt wird, hat das die Nebenwirkung, dass diese Sprache den Mainstream beeinflusst und vielleicht von anderen, größeren und bekannteren Spielen aufgenommen wird“, sagt Pfister.

Langfristig könnte dies bedeuten, dass Kinder und Jugendliche, die jetzt schon mit Computerspielen sozialisiert werden, spielerisch erfahren, welche Welten Künstler_innen mit ihren Werken erschaffen. Computerspiele wie „Through The Darkest of Times“ könnten dabei helfen, den Holocaust in Erinnerung zu behalten. Menschen, die kaum mit Wissenschaft oder Kunst in Kontakt kommen, wird ermöglicht, sich im Rahmen eines Escape Rooms für diese Themen zu begeistern. Und die scheinbare Ernsthaftigkeit von Kultur könnte mit Unterhaltung vereint werden. Denn wie König in Bezug auf den Escape Room abschließend erinnert: „Es macht schon auch sehr viel!“


EUGEN PFISTER
Dott. ric. Dr. phil. Eugen Pfister ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule der Künste Bern. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien und an der Université Paris IV – Sorbonne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Politik-, Medien- und Ideengeschichte von digitalen Spielen.

NATALIE DENK
Natalie Denk, MA, studierte Game Studies und Bildungswissenschaften. Sie ist Leiterin des Zentrums für Angewandte Spieleforschung an der Universität für Weiterbildung Krems und forscht u. a. zu Game- Based Learning und Educational Game Design.

NIKOLAUS KÖNIG
Dr. Nikolaus König studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaften. Er arbeitete am MIT in Cambridge und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Angewandte Spieleforschung an der Universität für Weiterbildung Krems. Er forscht u. a. zu Spieletheorie und Game-Based Learning.

CHRISTINE RIGLER
Mag.a Dr.in Christine Rigler studierte Germanistik und Anglistik an den Universitäten Graz und Wien. Sie ist Leiterin des Archivs der Zeitgenossen sowie stellvertretende Dekanin der Fakultät für Bildung, Kunst und Architektur an der Universität für Weiterbildung Krems.

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