Erst in den 1990er Jahren erlebt Evidenzbasierte Medizin ihren Durchbruch. Sie geht auf die Ideen des Arztes Archie Cochrane zurück. Bis heute pendelt die Medizin zwischen dem Wert des statistischen Beweises und ärztlicher Erfahrung.

Von Johanna Müller

 

In dem Bemühen zu beschreiben, was das Problem der Medizin im Allgemeinen und das des britischen National Health Service im Besonderen ist, teilt der Arzt Archie Cochrane 1972 in einem Essay eine Erinnerung an seine Zeit in deutscher Kriegsgefangenschaft, in die er als Medical Officer der britischen Armee geriet. „Ich erinnere mich, dass ich damals eine dieser Propaganda-Broschüren für medizinische Offiziere in Kriegsgefangenschaft über ‚klinische Freiheit und Demokratie‘ las. (…) Tatsächlich konnte ich ziemlich frei entscheiden, wie ich meine Patienten behandeln wollte. Mein Problem aber war, dass ich oft nicht wusste, welche Therapie ich am besten zum Einsatz bringen sollte. Ich hätte meine Freiheit gerne für ein wenig Wissen geopfert. Damals hatte ich noch nie etwas von ‚randomisierten kontrollierten Studien‘ gehört, aber ich wusste, dass es keinen wirklichen Beweis dafür gab, dass irgendetwas von dem, was wir gegen Tuberkulose einsetzten, auch nur irgendwie wirkte. Ich hatte Angst, dass ich das Leben einiger meiner Freunde durch unnötige Eingriffe verkürzte.“

Cochrane erzählt von dieser Erfahrung, weil sie zeigt, was die Medizin ist und was sie aus seiner Sicht sein sollte: Die Medizin hat die Aufgabe, die Wirksamkeit von Behandlungen zu belegen, bevor sie sie anwendet. Alles andere ist im schlimmsten Fall gefährlich und in jedem Fall Verschwendung. Was die Medizin braucht, sind Personen und Institutionen, die Evidenz kritisch prüfen und dem Gesundheitssystem zur Verfügung stellen.

Was Cochrane im Essay Effectiveness and Efficiency – Random Reflections on Health Services, formulierte, machte ihn zum Vordenker der Evidenzbasierten Medizin. Das Essay gab der EBM, wie sie oft abgekürzt wird, zugleich die Fragen mit auf den Weg, die alle Auseinandersetzungen in diesem Feld bis heute prägen: Was darf als Evidenz gelten? Welche Rolle spielen die Erfahrungen der Ärzt_innen und in welchem Verhältnis stehen sie zu den randomisierten kontrollierten Studien, die der Goldstandard der EBM sind? „So selbstverständlich es heute erscheint, dass die Medizin wirksame Therapien und Medikamente anbietet; die Frage, was denn unter ‚Wirksamkeit‘ zu verstehen ist und wie man diese beweist, hat eine lange Geschichte und war immer wieder Gegenstand von intensiven Debatten“, sagt der Medizinhistoriker Hans-Georg Hofer.

Evidenz für alle

Die Cochrane Collaboration wurde 1993, gut zwanzig Jahre nach dem richtungsweisenden Text von Archie Cochrane, gegründet. Der Zusammenschluss von Wissenschaftler_ innen aus verschiedenen Disziplinen löst seither ein, was Cochrane vermisste: gut zugängliches Wissen über wirksame Behandlungen. Einzelstudien werden in einem festgelegten Verfahren ausgewertet, beurteilt und in „systematic reviews“ zusammengefasst. „Die Evidenzbasierte Medizin im Sinne der Pioniere war auch eine Bewegung gegen die Hierarchien in den Kliniken. Es geht darum, möglichst viele, auch Laien, in die Lage zu versetzen, sich ein Urteil zu bilden“, sagt Karla Soares-Weiser. Die Psychiaterin leitet seit 2019 die Cochrane Library. Diese macht unter anderem die Systematic Reviews online für die Öffentlichkeit zugänglich. „Evidenz“, so Soares-Weiser, „kann nur dann die Grundlage von Entscheidungen werden, wenn Informationen kritisch geprüft wurden.“

Die Wurzeln dieses Evidenzbegriffs gehen weit zurück. Barbara Nußbaumer-Streit, Co-Direktorin des Zentrums Cochrane Österreich, erinnert etwa an Ignaz Semmelweis, der Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals mit empirischen Methoden nachwies, dass das Kindbettfieber, an dem viele Mütter starben, durch die mangelnde Hygiene der untersuchenden Ärzte ausgelöst wurde: Es war üblich, direkt von den Leichnamen in der Anatomie zu den gebärenden Frauen zu gehen, ohne sich die Hände zu waschen. Die Desinfektion mit Chlor, die Semmelweis auf Basis seiner Untersuchung durchsetzte, ließ die Fälle von Kindbettfieber sinken, aber sein Vorgehen veränderte die Medizin noch nicht. „Die Zeit war noch nicht reif für Evidenzbasierte Medizin. Sie startete erst mit dem Einzug der Statistik und der Epidemiologie im klinischen Bereich durch, als man begann, Risiken zu berechnen und die entsprechenden Kennzahlen entwickelt hatte“, so Nußbaumer-Streit.

Selbstreflexion erwünscht

Gut einhundert Jahre vor Semmelweis hatte bereit James Lind, ein schottischer Arzt, die erste kontrollierte Studie durchgeführt und belegt, dass Zitrusfrüchte Skorbut bei langen Seereisen vorbeugen. Doch im 19. Jahrhundert ist es das erste Mal, dass der Begriff Evidenz als Grundlage für therapeutische Entscheidungen diskutiert wird. Carl Wunderlich, ein Zeitgenosse von Semmelweis, etablierte eine Reihe von Mess- und Dokumentationsmethoden – etwa regelmäßige Fiebermessungen und ihren Eintrag in eine Fieberkurve oder auch klinische Beobachtungen. Ohne diese Arbeiten wäre die EBM heute nicht denkbar.

Doch ebensowenig, würde der Kontrapunkt dazu fehlen: Nachlässigkeit im Denken und blindes Vertrauen in Statistik und in die Macht der Zahlen erregten schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg den Widerspruch eines Schweizer Psychiaters: Eugen Bleuler mahnt die Ärzt_innen seiner Zeit zur Selbstreflexion und zur methodischen Kritik. „Was Bleuler sehen möchte, ist kritisches Urteilsvermögen, die Fähigkeit, eigene Erfahrungen rational einzuordnen und viele unterschiedliche Informationen kritisch zu würdigen. Es ist ein Plädoyer für die Stärkung epistemischer Tugenden in der Medizin“, sagt Hofer.

Karla Soares-Weiser

„Die Evidenzbasierte Medizin im Sinne der Pioniere war auch eine Bewegung gegen die Hierarchien in den Kliniken. Es geht darum, möglichst viele, auch Laien, in die Lage zu versetzen, sich ein Urteil zu bilden.“

Karla Soares-Weiser

Erfahrungswissen

Der Erste Weltkrieg hatte die Ärzt_innen in einer Situation sehr begrenzter Ressourcen mit vielen Verletzten konfrontiert; in Kombination mit der Spanischen Grippe gab dies der ersten Entwicklung von Leitlinien Anschub, um möglichst effektiv und effizient medizinische Entscheidungen treffen zu können. In Reaktion darauf wurde die Sorge geäußert, dass bei Menschen jede Erkrankung anders verlaufe und es deshalb in der Medizin auf individuelle ärztliche Erfahrungen ankomme.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Thema in einer Debatte zwischen zwei deutschen Ärzten wieder aufgegriffen: Der eine, Paul Martini, plädiert für wissenschaftlich geprüfte Therapieverfahren und eine auf den „klinischen Beweis“ gestützte Medizin. Der andere, Alexander Mitscherlich, fordert Menschlichkeit in der Medizin; sich im Namen der Evidenz allein auf das Experiment, die Statistik und die Zahlen zu stützen, bringe die Gefahr einer entmenschlichten Medizin mit sich. Erfahrung und Subjektivität sind ebenfalls als Evidenz zu sehen, so das Argument Mitscherlichs. „Wichtig dabei ist: Die Subjektivität ist nicht nur bei den Patient_innen zu finden, sondern auch der Arzt und die Ärztin sind Subjekt und ihr Handeln ist daher von einer gewissen Subjektivität mitgeprägt“, so Hofer.

Paradigmenwechsel

Zwei Jahre Pandemie geben gegenwärtig wieder eher den Daten das größere Gewicht, was die Evidenz in der Medizin betrifft. Die Cochrane Collaboration hat auf den Datenboom der Pandemie unter anderem mit „ rapid reviews“ reagiert. Diese fassen rasch die Evidenz zu einem Thema zusammen. Die Cochrane Library erlebte einen Nutzer_innenzuwachs um 30 Prozent. „Evidenz wurde noch nie so ernst genommen“, sagt Soares-Weiser. „Zugleich nahm auch das Misstrauen gegenüber wissenschaftlichem Wissen zu.“

Die Geschwindigkeit, mit der neue Erkenntnisse produziert wurden, sei „Fluch und Segen zugleich“ gewesen, meint Nußbaumer- Streit. Ein Fluch wegen der schieren Menge oft auch schlecht gemachter Studien, ein Segen wegen der Bedeutung, die dem Zustandekommen von Evidenz wieder geschenkt wurde: „Es ist unsere allerwichtigste Aufgabe im Bereich der Evidenzbasierten Medizin, Studien kritisch zu bewerten und zu prüfen, welche Aussagen man ableiten kann und welche nicht. Diese Aufgabe wird immer wichtiger, je schneller das Volumen an Studien wächst.“

Zugleich sieht Soares-Weiser die Notwendigkeit, kritischer Selbstreflexion mehr Raum zu geben. Viele Themen und Studien stammten aus dem globalen Norden, ebenso die Reviewer_innen. „Wir bemühen uns, diesen Bias zu reflektieren und zu vermeiden. Vielleicht entsteht daraus ein neuerlicher Paradigmenwechsel“, meint sie. „Die Geschichte der Evidenzbasierten Medizin ist schließlich noch nicht zu Ende.“


HANS-GEORG HOFER
Prof. Dr. Hans-Georg Hofer ist Professor für Geschichte und Theorie der Medizin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster.

BARBARA NUSSBAUMER-STREIT
Dr.in Barbara Nußbaumer-Streit, MSc BSc leitet als Co-Direktorin das Zentrum Cochrane Österreich am Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Universität für Weiterbildung Krems.

KARLA SOARES-WEISER
Karla Soares-Weiser PhD ist Editor in Chief der Cochrane Library, der Bibliothek des globalen, unabhängigen Netzwerks aus Wissenschaftler_innen, Ärzt_innen und anderen. Die Psychiaterin und Epidemiologin ist Autorin von über 60 Systematic Reviews.


WISSENSWERTES

Der Goldstandard klinischer Untersuchungen: randomisierte, kontrollierte Studie (englisch: randomized controlled trial, kurz RCT). Dabei werden unterschiedliche Methoden miteinander verglichen und die Probanden zufällig auf die Studiengruppen verteilt. Entwickelt wurde dieser Standard vom englischen Statistiker Austin Bradford Hill (1897– 1991). Er wies damit als Erster zusammen mit einem Kollegen in den 1950er Jahren den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs nach.

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