Ein Kommentar von Die Presse-Redakteur Köksal Baltaci

Die Ernüchterung ist nach zweieinhalb Jahren Pandemie groß. Noch immer gilt sie nicht als überwunden, noch immer drohen Infektionswellen, die zu Engpässen in Spitälern und anderen Bereichen der kritischen Infrastruktur führen können. Zudem hat sich so manche Ankündigung als Illusion erwiesen – die Herdenimmunität etwa, weil weder eine überstandene Infektion noch eine Impfung eine sterile Immunität verursacht, geimpfte und genesene Personen können sich also ebenfalls infizieren und andere anstecken. Eine Ankündigung, bei der offensichtlich der Wunsch Vater des Gedankens war. Wie bei vielen anderen Prognosen, die in der Bevölkerung einen nachhaltigen und nachvollziehbaren Vertrauensverlust gegenüber dem Pandemie-Management hervorgerufen haben.


Ein Vertrauensverlust, der nur mit ehrlicher und transparenter Kommunikation auf Basis wissenschaftlicher Evidenz wiedergutgemacht werden kann – zumindest teilweise. Verkündet werden muss die uneingeschränkte Wahrheit, nicht die Hoffnung, getarnt als Wahrheit. Dazu gehört beispielsweise, dass wir schlichtweg nicht wissen, was genau es mit dem saisonalen Effekt auf sich hat. Zweifellos gibt es ihn, zweifellos wurde er aber auch überschätzt, anders ist eine derart starke Sommerwelle in Österreich   und zahlreichen anderen europäischen Ländern nicht zu erklären. Diese Erkenntnis impliziert auch, dass wir nicht wissen können, wann sich die nächste Welle aufbaut – von einer bevorstehenden Herbstwelle zu sprechen, als wäre sie ein Naturgesetz, ist unredlich und zeugt nach den Ereignissen der vergangenen zweieinhalb Jahre von einer bemerkenswerten Lernunfähigkeit.


Dieses Virus ist nun einmal unberechenbar und wird auch künftig für negative Überraschungen gut sein. Ob die Pandemie aufgrund der hohen Immunität in der Bevölkerung am Abklingen ist oder durch eine neue und gefährlichere Variante erneut aufflackert, ist aus heutiger Sicht seriös nicht zu beantworten. Mit der logischen Konsequenz, dass wir auch in Zukunft wachsam bleiben und entschlossen, aber unaufgeregt auf künftige Herausforderungen reagieren müssen – mit rasch angepassten Impfstoffen ebenso wie mit Hausverstand beim Verhalten im Alltag, also etwa mit dem Tragen einer Maske in öffentlichen Innenräumen.  Mag sein, dass eine solche Strategie, die auch an die Eigenverantwortung appelliert, schwieriger zu kommunizieren ist, als immer nur die nächste Etappe anzukündigen und die Bevölkerung auf deren Bewältigung einzuschwören. Aber sie ist in jedem Fall nachhaltiger und vielversprechender, denn eine weitere Verunsicherung können wir uns nicht leisten. 


KÖKSAL BALTACI
Köksal Baltaci ist seit 2011 Redakteur im Inlands-Ressort der Tageszeitung „Die Presse“ mit Schwerpunkt auf Gesundheitsthemen. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen wie etwa dem Pressepreis der Wiener, der Österreichischen und der Oberösterreichischen Ärztekammer. Das Branchenmagazin „Österreichs Journalist:in“ zeichnete ihn zudem als „Corona-Erklärer“ der Nation aus.

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