Frauen und Männer sind verschieden. Die Unterschiede stellen auch die Evidenzbasierte Medizin vor die Frage: Inwieweit soll und muss auf die Differenzen eingegangen werden?

Von Milena Österreicher

 

Lange galt der Mann als Prototyp in der Medizin. Er war der Standard: als Proband, Patient und meist auch als behandelnder Arzt. Krankheitsbilder, Diagnosen und Therapien richteten sich an ihm aus. „Man nahm an, es wird schon auch für Frauen stimmen, immerhin ist quasi die Hälfte der Menschen untersucht“, sagt Margarethe Hochleitner, die die Professur für Gendermedizin an der Universität Innsbruck innehat. Sie fügt hinzu: „Das ist ein Irrtum.“

Während in vielen gesellschaftlichen Bereichen auf Gleichbehandlung von Frauen und Männern hingearbeitet wird, ruft die Gendermedizin nach mehr Differenzierung. Sie beruft sich auf die biologischen – Stoffwechsel, Hormone … – sowie soziokulturellen Unterschiede – Lebensstil, geschlechtsspezifische Rollenmodelle, Verhalten und Umgang mit Krankheiten … – zwischen Frauen und Männern.

Studienergebnisse zeigen, dass geschlechtsspezifische Unterschiede herrschen, sowohl in Diagnostik als auch Therapie. Etwa der Herzinfarkt: Als „typische“ Anzeichen galten lange Schmerzen im Brustbereich, ein „Strahlen“ vom linken Arm weg. Jedoch äußert sich der Herzinfarkt bei Frauen auch in Form von Oberbauchschmerzen. Die Folge: Frauen konnten oft nicht richtig oder erst zu spät diagnostiziert werden.

Umgekehrt werden Depressionen bei Männern häufig nicht oder spät diagnostiziert. Depression gilt mit ihren Merkmalen wie Niedergeschlagenheit, innere Leere, Gereiztheit oder Selbstzweifel als „Frauenkrankheit“. Frauen sind doppelt so häufig wegen einer Depression in Behandlung. Fachleute bezweifeln mittlerweile aber, dass Männer nicht ebenso betroffen sind. Das gesellschaftliche Bild des „starken Mannes“ erschwert es, über psychische Probleme zu sprechen. Männer berichten zuerst oft über körperliche Beschwerden wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder sexuelle Probleme. So werden oft körperliche Probleme hinter den Beschwerden vermutet.

Kleine große Unterschiede

Auch die Medikamentenanwendung weist Differenzen auf. Frauen und Männer nehmen Arzneimittel unterschiedlich im Körper auf, das Medikament verteilt und aktiviert sich, wirkt unterschiedlich und wird unterschiedlich ausgeschieden. Grund dafür sind u. a. die weiblichen Geschlechtshormone, die sich im Lauf des Menstruationszyklus, bei Einnahme hormoneller Verhütungsmittel, während einer Schwangerschaft sowie im Wechsel andere Werte aufweisen. Doch ist der Unterschied so groß, dass er für die Therapie relevant ist?

Andrea Chapman

„Weitere Studien zu den Unterschieden wären wichtig. Allerdings kommt es nicht immer auf einen Anteil von 50 : 50 an.“

Andrea Chapman

In einer Metastudie 2010 versuchten Gerald Gartlehner, Andrea Chapman, Michaela Strobelberger und Kylie Thaler vom Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Universität für Weiterbildung Krems festzustellen, ob es klinisch relevante Unterschiede in der Wirksamkeit und Sicherheit häufig verschriebener Medikamente zwischen Männern und Frauen gibt. Dazu wurden alle verfügbaren systematischen Übersichten des Oregon Drug Effectiveness Review Project vor 2010 untersucht. Die Studie legt nahe, dass es bei den meisten Medikamenten – mit einigen Ausnahmen wie etwa neueren Antiemetika oder Lovastatin – keine großen Unterschiede in der Wirksamkeit und Sicherheit gibt. Allerdings weisen die Studienautor_innen auch darauf hin, dass das verfügbare Material begrenzt war. In anderen Studien erwies sich, dass einzelne Wirkstoffe deutliche Unterschiede aufweisen. Der Wirkstoff Minoxidil gegen Haarausfall muss mittlerweile bei Frauen niedriger dosiert werden als bei Männern, Prucaloprid gegen Verstopfung erfordert ebenso bei Männern eine höhere Dosierung, Medikamente mit dem Wirkstoff Romosozumab gegen Osteoporose erhielten nur für Frauen eine Zulassung, weil es bei Männern häufiger zu schweren Nebenwirkungen führte.

Jürgen Harreiter, Oberarzt im AKH Wien an der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, ergänzt: „Auch beim Diabetes- Medikament Pioglitazon zeigte sich, dass bei Frauen mit Diabetes nach der Menopause das Risiko für Knochenfrakturen deutlich ansteigt.“ Frauen seien generell häufiger von Osteoporose betroffen, diese Medikamentengruppe erhöhe das Risiko weiter.

Datenmangel

„Weitere Studien zu den Unterschieden wären wichtig“, sagt Andrea Chapman. Die Ergebnisse sind auch aus der Sicht der Evidenzbasierten Medizin wichtig, nicht zuletzt für die praktizierenden Ärzt_innen. In ihre Entscheidungen sollten die neuesten medizinischen Erkenntnisse einfließen. Damit Mediziner_innen nicht jede Woche stundenlang jede einzelne neue Studie durchsehen muss, dienen Übersichtsstudien als wichtiges Mittel für Wissensmanagement. Doch an denen mangle es laut Chapman im Bereich der Gendermedizin. Für Meta-Studien gebe es noch zu wenig Primärstudien.

Jahrzehntelange wurden keine bzw. nicht ausreichend viele Studien mit Frauen gemacht. Ein Grund waren Skandale, wie jener rund um das Beruhigungsmittel Contergan in den 1960er Jahren, das u. a. zu Fehlbildungen bei ungeborenen Kindern führte. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA wies 1977 an, Frauen im gebärfähigen Alter von frühen klinischen Studien auszuschließen. Die Studienergebnisse, die an Männern gewonnen wurden, wurden größtenteils auf Frauen übertragen.

Margarethe Hochleitner

„Man nahm an, es wird schon auch für Frauen stimmen, immerhin ist quasi die Hälfte der Menschen untersucht.“

Margarethe Hochleitner

Mittlerweile wurde diese Anweisung wieder rückgängig gemacht. Das US-amerikanische National Institutes of Health (NIH) – der weltweit größte Fördergeber biomedizinischer Forschung – beschloss 1993 den NIH Revitalization Act, in dem gefordert wurde, Frauen und Minderheiten in ausreichender Zahl in Forschungsarbeiten am Menschen einzubeziehen, um valide Analysen in klinischen Studien zu ermöglichen. Auch in Österreich müssen zugelassene Medikamente an Männern und Frauen getestet worden sein.

Keine Quote

Dennoch ergibt eine nordamerikanische Studie aus dem Jahr 2021 ein weiter bestehendes Repräsentationsungleichgewicht. Jecca R. Steinberg und ihre Kolleg_innen fanden mit einer Probe von 20.020 klinischen Untersuchungen zwischen 2000 und 2020 heraus, dass Frauen in den Bereichen Kardiologie, Onkologie, Neurologie, Immunologie sowie Hämatologie unterrepräsentiert sind, während männliche Studienteilnehmer bei Studien zu Erkrankungen des Bewegungsapparates, Trauma, Psychiatrie und Präventivmedizin wenig vertreten waren.

„Allerdings kommt es nicht immer darauf an, einen Anteil von 50 : 50 zu haben“, meint Andrea Chapman. Wichtiger sei, dass eine Studie groß genug geplant wird, um einen möglichen Unterschied zwischen Männern und Frauen statistisch erkennen zu können. Wichtig wäre zudem auch, die Wirksamkeit nach Geschlechtern getrennt zu analysieren. „Obwohl die Studienbeteiligung von Frauen zugenommen hat, hat dies nicht unbedingt zu einer Zunahme von Ergebnisreporting nach Geschlecht geführt“, berichtet Chapman.

Personalisierte Medizin

Die Frage bleibt auch, ob der Unterschied in der Medikamentenwirkung zwischen Frauen und Männern größer ist als die individuellen Unterschiede von Mensch zu Mensch, etwa ob eine Person sportlich oder unsportlich ist, wie viel sie wiegt, ob sie raucht etc. Bei einigen Medikamenten, wie etwa den sogenannten Blutverdünnern, muss die Wirkstoffkonzentration bereits jetzt genau auf Patient_innen abgestimmt werden.

„Nur auf das biologische Geschlecht zu fokussieren, wäre zu kurz gegriffen“, meint Gendermediziner Jürgen Harreiter von der Medizinischen Universität Wien. Es komme auch auf das soziale Geschlecht, Vorerkrankungen sowie das Alter an. Dem schließt sich Margarethe Hochleitner von der Universität Innsbruck an. Auch andere sogenannte Diversitas-Gruppen sollten in die Konzeption und Durchführung von Studien Eingang finden: „Frauen und Männer sind die größte Gruppe, aber es gibt auch chronische Erkrankungen, Behinderung, Ethnie, kulturellen und sozialen Background oder sexuelle Orientierung, die eine Rolle spielen.“

Der Forschungsbedarf ist jedenfalls groß. „Seit den 90er Jahren fordern wir, dass alle von uns angenommenen schulmedizinischen Wahrheiten geprüft werden“, sagt Hochleitner. Bis dem so ist, könnte noch einige Zeit vergehen.


ANDREA CHAPMAN
Andrea Chapman, MA, BA, BSc ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Universität für Weiterbildung Krems. Ihre Schwerpunkte liegen auf der Erstellung evidenzbasierter Übersichtsarbeiten und der Anwendung systematischer Methoden.

JÜRGEN HARREITER
Dr. Jürgen Harreiter, PhD, MSc ist Oberarzt im AKH Wien an der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel und Mitarbeiter der Gender Medicine Unit der Medizinischen Universität Wien. Er forscht zu geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Stoffwechselerkrankungen, insbesondere Diabetes.

MARGARETHE HOCHLEITNER
Univ.-Prof.in Dr.in med. Margarethe Hochleitner ist Professorin für Gendermedizin und Diversität an der Universität Innsbruck und Direktorin des Frauengesundheitszentrums an den Universitätskliniken/ LKH Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kardiologie, Präventivmedizin und Gender Studies.

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