Viele Arten in Flora und Fauna verschwinden, bevor sie überhaupt entdeckt wurden. Um die Biodiversität zu retten, ist ein internationaler Schulterschluss von Wissenschaft und Politik nötig.

Von Markus Mittermüller

Allein die Zahlen sind erschreckend: Rund eine Million Arten ist weltweit vom Aussterben bedroht. Ob Primaten, Rochen, Giraffen oder Palisanderbäume: Bei vielen Spezies hat sich der Niedergang in den vergangenen Jahren noch beschleunigt. So sind beispielsweise die Bestände der Massai-Giraffen in Tansania und Kenia in den letzten 30 Jahren auf die Hälfte geschrumpft. Mehr als 90 Prozent der Palisanderarten Madagaskars, die aufgrund ihres wertvollen Holzes sehr gefragt sind, gelten mittlerweile als bedroht. Schon 15 Arten von Geigenrochen wurden wegen Überfischung in die Kategorie „vom Aussterben bedroht“ hochgestuft. Der Mensch droht als Verursacher des sechsten Massensterbens in die Geschichte einzugehen, warnt der globale Biodiversitätsrat IPBES in seinem globalen Zustandsbericht 2019. Viele Arten sowie wichtige Ökosysteme könnten bereits in den nächsten Jahrzehnten verschwunden sein – teilweise noch bevor sie überhaupt erforscht werden konnten, schlägt die Ökologie-Community Alarm.

Welche große Rolle spielt es schon, wenn es eine Geigenrochen-Art weniger gibt, mag man sich angesichts der Vielfalt der Arten fragen. Die Folgen wären dramatisch: Neben den direkten Auswirkungen der Verarmung auf die Ökosysteme könnte zum Beispiel der Rückgang vieler Bestäuber massiven Einfluss auf die Lebensmittelproduktion haben. Immer wieder verdeutlichen Expertinnen und Experten, dass der Verlust an Biodiversität kein reines Umweltthema ist, sondern auch Entwicklung, Wirtschaft, politische Stabilität und soziale Aspekte wie Flüchtlingsströme beeinflusst. „Die Biodiversität ist ein langfristig entstandenes Muster, das komplex verwoben ist. Und wir als Menschen sind selbst Teil dieses riesigen Ökosystems, wir nutzen viele Bereiche davon und haben auch die Verantwortung dafür“, erklärt Christian Sturmbauer, Zoologe und Evolutionsbiologe am Institut für Zoologie an der Karl-Franzens-Universität Graz.

Noch ist es nicht zu spät, den Rückgang der Artenvielfalt zu stoppen. Doch welche Maßnahmen sind dafür notwendig und wie müssen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik miteinander agieren, damit diese Maßnahmen auch wirklich wirksam sind?

„Trotz vielfältiger gesetzter Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene nimmt die Biodiversität weiter ungebremst ab. Daraus kann man nur den Schluss ziehen, dass die derzeitigen Zielsetzungen, Strategien und Maßnahmen nicht ausreichen, um in Österreich – aber auch international – die Biodiversität für die nächsten Generationen zu erhalten“, sagt Sturmbauer.

HervorhebungAls Beispiel nennt der Zoologe den progressiven Flächenverbrauch, der massiv zurückgeschraubt werden müsse. Derzeit werden in Österreich pro Tag 12 Hektar an Grünland verbaut. Sturmbauer: „Ziel muss sein, diese Zerstückelung von Lebensraum auf ein Zehntel davon zu reduzieren.“ Zusätzlich wären generelle gesetzlich zwingende Ausgleichsmaßnahmen notwendig. „Wird ein Einkaufszentrum in der Peripherie gebaut, so sollten andere Flächen dafür renaturiert werden“, nennt Sturmbauer ein Beispiel. Oder allgemein gesprochen: Der Naturschutz muss in der Abwägung mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen nicht – wie bisher oft der Fall – herabgestuft, sondern adäquat gewichtet werden.

Aufbau des Netzwerks Biodiversität Österreich

Um die Biodiversität zu stärken, wurde im Rahmen des Projektes Biodiversitäts-Hub an der Donau-Universität Krems Ende 2017 mit dem Aufbau des Netzwerks Biodiversität Österreich begonnen. „Wir wollen damit einen Beitrag leisten, dass das Wissen stärker in die Umsetzung kommt“, erklärt Andrea Höltl, Projektverantwortliche des Biodiversitäts-Hubs. Das Netzwerk verbindet interdisziplinär die unterschiedlichsten Fachdisziplinen und transdisziplinär Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Wirtschaft, NGOs und Zivilgesellschaft.

Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Verfügbarkeit von Daten, die auch als Grundlage für politische Entscheidungen herangezogen werden sollen. „Viele Datenbanken zu Natur sind bereits vorhanden. Wir sind bestrebt, diese Daten stärker untereinander sowie mit anderen Umweltinformationen wie Klima- und Landnutzungsdaten oder Gewässerdaten zu verknüpfen. Damit können wir ein neues und breiteres Bild der Biodiversität aufzeigen“, sagt Gerald Steiner, ebenfalls Mitglied des Biodiversitäts-Hubs. Gerald Steiner ist Universitätsprofessor für  Organisationskommunikation und Innovation an der Donau-Universität Krems.

Neue Form des Datenmanagements

Dazu wurde jüngst der Biodiversitäts-Atlas vorgestellt. Der Fokus dieses Biodiversitäts-Datenmanagementsystems liegt vorerst auf den Bundesländern Niederösterreich und Wien, für eine österreichweite Ausdehnung sind die technischen Voraussetzungen geschaffen. „Unterschiedliche Nutzerinnen und Nutzer – von Forschung, Wirtschaft, Verwaltung bis zur allgemeinen Bevölkerung – können nun die hier verfügbaren biodiversitätsrelevanten Daten online gut aufbereitet und visualisiert einfach und unkompliziert abfragen und analysieren“, so Steiner.

Christian Sturmbauer

„Trotz vielfältiger gesetzter Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene nimmt die Biodiversität weiter ungebremst ab.“

Christian Sturmbauer

Um der Biodiversität eine starke Stimme zu geben, haben sich im September 23 namhafte Experten und Wissenschafterinnen aus mehr als 15 Institutionen zu einem fachübergreifenden Biodiversitätsrat zusammengeschlossen. „Ziel ist es auch, die wissenschaftlichen Ergebnisse sowie Forschungslücken aufzuzeigen“, erklärt Sturmbauer, der gemeinsam mit Biodiversitätsforscher Franz Essl und der Politikwissenschafterin Alice Vadrot das Leitungsteam des Biodiversitätsrates bildet.

Rechtliche Verbindlichkeit nötig

Vadrot beschäftigt sich auch damit, wie die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik gestaltet sein muss, damit die Schlussfolgerungen aus den vorhandenen Daten auch in einen verbindlichen politischen und rechtlichen Rahmen gegossen werden. „Wissenschaft und NGOs spielen in Österreich eine gute Rolle, müssen aber viel stärker in politische Entscheidungen eingebunden werden“, fordert Vadrot. Derzeit spiele sich vieles nur auf informeller Ebene ab. „Was fehlt, ist eine Kultur der wissenschaftlichen Politikberatung“, so die Wissenschafterin. Während diese in Ländern wie Deutschland oder Großbritannien fix im Parlament verankert ist, finden in Österreich beispielsweise nur unverbindliche Hearings von Umweltexpertinnen und -experten im Umweltausschuss statt. „Die Wissenschaft muss jedoch eine tragende Rolle beim Implementieren von Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität spielen“, so Vadrot.

Daten vereinheitlichen

Einheitliche Standards für Umweltdaten – wie beispielsweise in Frankreich – könnten helfen, dass die Wissenschaft noch mehr Information zugänglich machen kann. „Naturschutz ist in Österreich Ländersache. Daher ist es oft nicht möglich, die Daten – wie jene aus den Natura-2000-Berichten – länderübergreifend zu vergleichen“, meint die Politikwissenschafterin. Weiters sei eine bessere Finanzierung der Biodiversitätsforschung unumgänglich – so brauche es ein nationales Forschungsprogramm zum Arten und Biodiversitätsschutz.

Eine Maßnahme, die sowohl Vadrot wie auch Sturmbauer mit Nachdruck einfordern, geht noch in eine ganz andere Richtung. Sie appellieren daran, Kindern und Jugendlichen das Naturerlebnis wieder näherzubringen. „Die Entfernung der Kinder von der Natur wird auch aufgrund der Digitalisierung immer größer. Es ist Aufgabe der Bildung, die Jugend mit der Natur zu konfrontieren und die Begeisterung dafür zu entfachen“, sagt Sturmbauer. Diese Umweltbildung sollte laut Vadrot bereits im Kindergarten etabliert und in der Schule fortgesetzt werden. Sturmbauer weiter: „Wir brauchen einen Paradigmen- und Wertewechsel. Die Natur hat einen wichtigen Wert, denn es geht um unser gesamtes System. Noch bin ich optimistisch, was den Erhalt der Biodiversität betrifft. Aber wir müssen jetzt dringend handeln!“

 


GERALD STEINER
Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerald Steiner ist Universitätsprofessor für Organisationskommunikation und Innovation und Dekan der Fakultät für Wirtschaft und Globalisierung der Donau-Universität Krems. Er forscht zu nachhaltigkeits-orientierten Innovationssystemen und ist Leiter des Biodiversitäts-Hubs.

ANDREA HÖLTL
Dr. Andrea Höltl, MBA, M.E.S. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement an der Donau-Universität Krems. Sie ist Nachhaltigkeitsökonomin und Koordinatorin des Biodiversitäts-Hubs.

CHRISTIAN STURMBAUER
Univ.-Prof. Mag. Dr. Christian Sturmbauer ist Universitätsprofessor für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er erforscht Muster der Artenentstehung, dokumentiert die heimische Biodiversität und ist Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

ALICE VADROT
Ass.-Prof. Dr. Alice Vadrot hat Politikwissenschaft, Philosophie und Slawistik an der Universität Wien studiert. Seit 2018 ist sie Projektleiterin des ERC-Projekts MARIPOLDATA, bei dem neue Machtformen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik untersucht werden.

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