29.01.2024
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Am 26.1.2024 ist die Zeitgenossin Ilse Helbich verstorben. Ein Nachruf auf die große alte Dame der österreichischen Gegenwartsliteratur von Helmut Neundlinger.

„In der Frage leben, ohne sie zu lösen“: Es waren und sind Sätze wie dieser, die das Schreiben der Autorin Ilse Helbich so unvergleichlich machten. Ausgehend von einem sich zugleich nach innen und außen richtenden Erzählen entfaltete sich ihr literarische Kosmos, in dem sich Poesie und Reflexion auf einzigartige Weise verknüpften. Der Akt des Schreibens war für sie eng geknüpft an eine Stimmung, die sie selbst „Gegenwartszustand“ nannte: innere Konzentration, gepaart mit größter Offenheit gegenüber dem Jetzt in seiner sinnlich-geistigen Konkretion.

Ilse Helbichs Weg zur Autorin vollzog sich über einen langen Zeitraum und auf ungewöhnlichen Wegen: Das Studium der Germanistik an der Universität Wien schloss sie 1947 mit einer Doktorarbeit über den Barockdichter Johann Beer ab und arbeitete anschließend drei Jahre lang im Verlagsbuchhandel. Nach der Heirat mit dem Wirtschaftsjuristen Franz Helbich gab sie ihren Beruf auf und widmete sich der Erziehung ihrer insgesamt fünf Kinder. Ab den späten 1960ern verfasste sie freiberuflich publizistische Beiträge in unterschiedlichen Medien: Sie belieferte die ORF-Bildungssendung Der Fenstergucker ebenso wie das literarische Feuilleton der Tageszeitung Die Presse sowie das Ö1-Radiomagazin Diagonal. Eigene literarische Versuche in Prosa entstanden seit Mitte der 1970er-Jahre, fanden zunächst allerdings keine verlegerische Heimat. Mitte der 1980er-Jahre trennte sie sich von ihrem Mann, kaufte die baufällige ehemalige Poststation in Schönberg am Kamp und ließ dieses Gebäude nach ihren Vorstellungen renovieren. Damit war auch der Schreibort geschaffen, der die Arbeit an umfangreicheren Prosaprojekten ermöglichte.

Als ihr erster Roman unter dem Titel Schwalbenschrift (zugleich ihre erste eigenständige Publikation) im Jahr 2003 bei dem am Bodensee angesiedelten Libelle-Verlag erschien, war sie bereits 80 Jahre alt, und es deutete wenig darauf hin, dass dies erst den Anfang einer in allen Facetten ungewöhnlichen Karriere darstellte. In einem Alter, in dem die meisten anderen Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf ihr Lebenswerk zurückblicken, nahm Helbichs Produktion erst Fahrt auf. Mit dem Wechsel zum Grazer Literaturverlag Droschl, bei dem 2009 ihr Roman Das Haus erschien, setzte eine Serie von Publikationen ein, die bislang Unpubliziertes mit neuen Texten verbanden. Seit 2010 erschienen insgesamt 10 Bücher mit Kurzprosa, poetisch-essayistischen Reflexionen sowie Gedichte. Der thematische Bogen reichte von präzise erzählten Erinnerungen über poetische Augenblicksaufnahmen bis hin zu Beschreibungen des weiblichen Körpers im Prozess des Alterns, wie sie bislang in der deutschsprachigen Literatur kaum zu lesen waren. „Neu und überraschend ist die Stärke der Erfahrung, dass ich Körper bin“, schrieb sie etwa in Schmelzungen (2015) und bezeichnete diese neue Erfahrung als eine „andere Art von Gewissheit“.

Jahr um Jahr folgte Buch auf Buch, der Endlichkeit des Körpers wie zum Trotz und zugleich getragen von einer immer größer werdenden Freiheit im Geist. „Sie müssen wissen, dass ich keine festen Meinungen mehr habe“, erklärte sie in einem Interview mit dem Standard 2021. „Ich bin sehr alt, und es kann sein, dass ich in einer Woche etwas anderes sage.“

Als Ilse Helbich im Jahr 2018 ihren literarischen Vorlass der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich übergab, wähnte sie sich mit ihrer Arbeit am Ende. Wiederholt bezeichnete sie ihren 2017 erschienenen Gedichtband Im Gehen als in literarischer Hinsicht „letztes Wort“. Zum Glück hat sie dieses letzte Wort mehrfach relativiert und weitere Werke vorgelegt, die – man muss es im Nachhinein beglückt feststellen – gefehlt hätten. Dies gilt für die Reflexionen über die Gelassenheit (2021) ebenso wie für ihr Nachdenken über das Träumen, Suchen und Finden (Anderswohin, 2022). Zu ihrem 100. Geburtstag erschien im Vorjahr schließlich der Band Wie das Leben so spielt – Dorfgeschichten, ein von Johann Peter Hebel bis Gottfried Keller wahrlich überdeterminiertes Genre, dem Helbich gleichwohl einen eigenen, höchst originellen Ton abtrotzte. Die Präzision der Sprache wiegt umso mehr, als es der Autorin aufgrund einer fortschreitenden Netzhaut-Degeneration nicht mehr möglich war, selbst zu schreiben. Sie komponierte ihre Texte im Kopf, diktierte und war in der Lage, „ganze Absätze zu verschieben“, wie sie einmal im Gespräch versicherte.

Nachhaltig in Erinnerung bleiben wird auch die öffentliche Präsenz, die sie im Sog der wachsenden Aufmerksamkeit in den letzten Jahren entwickelte. Ebenso wie ihre Texte bestachen ihre mündlichen Ausführungen in Interviews und bei Lesungen durch eine oft druckreife Ausdrucksweise. Die Freiheit, die sie dabei erlangt hatte, blitzte in dem feinen und scharfsinnigen Humor auf, mit dem sie ihre Stellungnahmen zuweilen ausklingen ließ. Im Interview mit dem Standard auf ihr eigenes Sterben angesprochen, erwiderte sie etwa: „Ich habe eine Freundin gehabt, die hat immer gesagt: Wenn es einen Weltuntergang gibt, dann möchte ich ihn erleben (lacht). In diesem Sinn: Ich würde sehr gern bewusst weggehen.“

Mit dem Tod Ilse Helbichs ist eine Welt untergegangen, ihr literarisches Vermächtnis jedoch wird bleiben und vom Archiv der Zeitgenossen weiter mit großer Zuneigung gepflegt werden.

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