Ein Zuviel an Informationen, schlechte Qualität der Informationen und gezielte Desinformation können Stress und Fehlentscheidungen verursachen und sogar demokratiegefährdend sein.

Von Sonja Bettel

Inbox zero! Wenn ein Bekannter das auf Social Media postet, frisst Sie der Neid? Sie suchen eine Stunde vor einem wichtigen Meeting verzweifelt die aktuellste Version der Projektübersicht und wissen nicht, auf welchem Ihrer mindestens 20 Nachrichtenkanäle sie hereingekommen ist? Sie würden am liebsten alle Ihre „smarten“ Geräte in den Elektronikschrottcontainer werfen und auf eine Almhütte ziehen? Wenn Sie alle diese Fragen mit „ja“ beantworten können, dann leiden Sie vermutlich unter Informationsüberlastung. 

Die Digitalisierung zahlreicher Lebensbereiche hat manches erleichtert, vielfach jedoch die Komplexität im beruflichen und privaten Leben massiv erhöht. Das allein ist aber noch kein Grund für Informationsüberlastung. Diese tritt dann auf, wenn die Anforderungen an die Informationsverarbeitung die vorhandene Informationsverarbeitungskapazität übersteigen. Sie entsteht dann, wenn die Menge der Informationen zu hoch ist, man zu wenig Zeit für die Verarbeitung der Informationen hat, zu viele voneinander unabhängige Informationen gleichzeitig zu verarbeiten sind und die Qualität der Informationen gering ist, man also die guten Nüsse aus einem Haufen tauber suchen muss. Diese Gründe für Stress durch Informationsflut zeigen verschiedene Forschungsarbeiten aus den vergangenen Jahren. So zum Beispiel die Studie „Informationsflut am Arbeitsplatz – Umgang mit großen Informationsmengen vermittelt durch elektronische Medien“, die Annika Piecha und Winfried Hacker von der Technischen Universität Dresden, Fakultät Psychologie, für die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zwischen 2016 und 2019 durchgeführt haben.

Von Überlastung durch zu viele E-Mails und zu viele Unterbrechungen durch Messengerdienste wurde schon vor 15 oder 20 Jahren berichtet. Die digitalen Medien machen es zunehmend leichter, Informationen zu generieren und an viele zu verbreiten. Musste einst ein Brief per Schreibmaschine getippt werden, in ein Kuvert gesteckt und zur Post gebracht werden, reicht heute ein Klick für ein Massenmail oder ein Posting an die ganze Welt.

„(...) mit Zunahme der Vernetzung durch geteilte Informationsspeicher- und -verarbeitungsmedien steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass weitere digitale Informationstechnologien Ursache informationeller Überlastung sind“, so Piecha und Hacker. Früher gab es firmeninterne Datenbanken und Aktenablagen, dann kam das Intranet dazu, über das man aktuelle Informationen abrufen konnte. Heute gibt es in Firmen jede Menge Programme, über die man in Teams zusammenarbeitet, Aufgaben verteilt, Dokumente gemeinsam bearbeitet, Nachrichten austauscht, Termine koordiniert, „Teambuilding“ pflegt und vieles mehr. Viele dieser Plattformen sind Social Media nachempfunden – mit Smileys und Likes, Tönen und hüpfenden Symbolen, die bei jeder hereinkommenden Information auf sich aufmerksam machen. „Oft besteht die Angst, wichtige Informationen zu verpassen. Wo ist die Information, die ich brauche? Wie finde ich sie in der Fülle des Informationsangebots?“, beschreibt Annika Piecha das Gefühl an vielen Arbeitsplätzen. Eine zusätzliche Belastung seit einem Jahr sei das weit verbreitete Homeoffice. Was normalerweise in Sitzungen oder von Schreibtisch zu Schreibtisch geklärt wird, findet derzeit hauptsächlich über Videokonferenzen, E-Mails und diverse Online-Plattformen statt. Das Problem sei dabei nicht die reine Menge, sondern die Frage, ob es nützliche Informationen sind oder bloß Daten, die nicht benötigt werden, aber trotzdem angeschaut und gefiltert werden müssen.

Viele Unternehmen würden erkennen, dass sie etwas gegen die Informationsüberlastung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun müssen, stellt Annika Piecha fest, die neben ihrer Forschung als selbstständige Arbeits- und Organisationspsychologin tätig ist. Oft würde aber in noch mehr Medien investiert, statt zuerst den Informationsbedarf zu analysieren.

Informationsverarbeitung in Unternehmen ist ein hochkomplexes Thema: Wie viele Informationen sind zu verarbeiten und wie lange dauert das? Wer hat welche Zugriffsrechte? Wer muss wen unter welchen Umständen wie informieren? Wie werden Informationen abgelegt und wer ist dafür zuständig? Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Unternehmenskultur, denn in einem Klima der Unsicherheit neigt man dazu, noch mehr Informationen an noch mehr Personen zu schicken, um Handlungen abzusichern. Für die Analyse der Quellen der Informationsflut eines Unternehmens brauche man deshalb arbeitspsychologisches Hintergrundwissen, sagt Piecha.

Zu wenig Zeit für Reflexion

Informationsüberlastung ist aber nicht nur ein individuelles Problem, das die Arbeitsleistung und die Gesundheit Einzelner beeinträchtigen kann. Sie ist auch ein Problem, weil Menschen dadurch unter Umständen falsche Entscheidungen treffen.

Vor 100 Jahren habe der Controller den Buchhalter in den Keller geschickt, der händisch Bücher durchsucht habe. Heute öffnet man den SAP-Client und habe binnen zehn Minuten eine Auswertung. Vielfach bleibe keine Zeit mehr, Informationen sacken zu lassen, sagt Peter Rötzel, Professor für Controlling und Wirtschaftsinformatik an der Technischen Hochschule Aschaffenburg. Der menschliche Geist sei gut darin, bei zu viel Informationen notfalls einiges davon auszublenden. Bei einer Informationsüberlastung könne es jedoch passieren, dass man nicht mehr die Informationen auswählt, die zur Lösung eines Problems beitragen. Dass man Entscheidungsalternativen frühzeitig verwirft oder aus Angst, zu wenig Informationen zu haben, noch mehr und noch mehr einholt und dann zu wenig Zeit für die Entscheidung hat, sagt Peter Rötzel. Er vergleicht das mit einem Einkauf im Supermarkt ohne Einkaufstasche: „Wenn ich versuche, alles auf dem Arm zu balancieren, dann fällt mir etwas runter und ist kaputt. So ähnlich ist es mit Informationen. Ich verliere dann jene, die ich bereits habe.“ Seine Empfehlung: Vor der Suche überlegen, welche Informationen man wirklich braucht (analog zum Supermarkt: einen Einkaufszettel schreiben) und sich für die Suche ein Zeitlimit setzen. Dann über das nachdenken, was man gefunden hat, und ausreichend Zeit für die Entscheidungsfindung einplanen.

Wenn die Infoflut demokratiebedrohend wird

Nachdenken über das, was man gefunden hat, sollten Menschen auch bei Social Media und anderen Informationskanälen. Denn die digitalen Medien erleichtern die Verbreitung von Falsch- und Desinformation. „Früher brauchte man ein ganzes Ministerium, um Fehlinformationen zu verbreiten, heute reicht dafür ein Smartphone“, macht Walter Seböck, Leiter des Zentrums für Infrastrukturelle Sicherheit der Donau-Universität Krems, die Problematik anschaulich.

„Früher brauchte man ein ganzes Ministerium, um Fehlinformationen zu verbreiten, heute reicht dafür ein Smartphone.“

Walter Seböck

Der Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Jänner 2021 oder Aufrufe zu Widerstand gegen Pandemie-Maßnahmen wurden und werden durch Social Media ausgelöst und erleichtert. Fehlinformationen werden oft bewusst ins Leben gerufen und dann absichtlich oder aus Unwissen weiterverbreitet, was über digitale Medien extrem schnell gehen kann. In Fällen, wo zu Angriffen gegen demokratische Institutionen aufgerufen wird oder gefährliche Massenpanik entstehen kann, muss eine Regierung oder Behörde eingreifen. Doch wie kann sie Fehlinformationen im Internet aufspüren und deren exponentielle Verbreitung verhindern? Sicherlich nicht durch menschliche Beobachtung, sondern nur maschinenunterstützt.

Wie politisch motivierte Desinformation mittels Artificial Intelligence erkannt werden kann, daran arbeitet das Team von Walter Seböck als Teil eines hochspezialisierten, durch das AIT geleiteten Konsortiums seit Oktober 2020. Die Schwerpunkte dieser Forschung liegen auf „audiovisueller Medienforensik, Textanalyse und deren multi-modaler Fusion unter Zuhilfenahme von Methoden der Künstlichen Intelligenz“, so die Kurzbeschreibung des FFG-KIRAS-Sicherheitsforschungsprojekts „defalsif-AI“. Beispielszenario ist die Verifizierung von Inhalten einzelner Webpages, die sich eventuell als seriöse Nachrichtenportale ausgeben, es ist in abgewandelter Form aber auch für Social Media einsetzbar.


ANNIKA PIECHA 
Dipl.-Psych. Annika Piecha, selbstständige Arbeitsund Organisationspsychologin war bis 2020 über 10 Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Dresden. Im Auftrag der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin forschte sie intensiv zum Umgang mit digitaler Informationsflut am Arbeitsplatz.

PETER RÖTZEL 
Prof. Dr. habil. Peter Gordon Rötzel, LL.M. ist Professor für Controlling und Wirtschaftsinformatik und Leiter des Behavioral Accounting & Finance Labs an der TH Aschaffenburg sowie Privatdozent an der Universität Stuttgart. Er erforscht unter anderem Nutzerverhalten in betrieblichen Informationssystemen.

WALTER SEBÖCK  
Ass.-Prof. Mag. Dr. Walter Seböck, MAS, MSc, MBA ist seit 2001 an der Donau-Universität Krems als Zentrums- und Departmentleiter sowie als Dekan tätig. Fachlich spezialisierte er sich auf E-Government und damit verbundene Sicherheitsanforderungen, Infrastruktur- und gesellschaftliche Sicherheit, Cybersecurity, selbstlernende Systeme und Sicherheitsforschung.

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