Auch Universitäten sind mit zunehmender Komplexität und neuen Aufgaben konfrontiert: mehr Digitalisierung, mehr unternehmerischer Geist. Wie viele Verpflichtungen gehen sich neben Forschung und Lehre noch aus, ohne das Profil zu verwässern?

Von Peter Illetschko

Und plötzlich war das Distance-Learning allgegenwärtig. Als die österreichische Bundesregierung im März 2020 den ersten Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie verkündete, wurde auch der Präsenz-Lehrbetrieb an den Universitäten eingestellt, Vorlesungen finden seither online statt. Da dieser Wandel vom Hörsaal in den virtuellen Raum kaum vorbereitet war, handelte es sich im Frühjahr 2020 auch um keine Transformation im klassischen Sinn: Die meisten Uni-Lehrenden hatten keine Zeit, ihr Vorlesungskonzept an die Technologie anzupassen, „die Inhalte wurden übertragen, fertig“, berichten Studierende und betonen teilweise ihr Verständnis dafür. Auch Antonio Loprieno, Vorsitzender des österreichischen Wissenschaftsrats, teilt diese Meinung: Die Online-Vorlesungen seien „eine Zuspitzung unter schwierigen Umständen“. Langfristig brauche es natürlich mehr als eine 1:1-Übertragung.

Ähnliche Stellungnahmen kommen von Unternehmen, die mit Unis kooperieren. Sabine Herlitschka, Vorstandsvorsitzende bei Infineon Austria, beobachtet mit Wohlwollen einen Schub in der Digitalisierung österreichischer Universitäten. „Das ist eine positive Auswirkung der Pandemie, immerhin“, sagt sie, allerdings sei man an diese Notwendigkeit „mit zu viel Bedauern“ herangegangen. Man hat den Eindruck, viele Uni-Lehrende hätten darin kaum Chancen, sondern vielmehr Verpflichtung und Notwendigkeit gesehen. Herlitschkas Beschreibung des Stimmungsbilds in Corona-Zeiten hat für Oliver Vitouch, Rektor der Universität Klagenfurt, trotz aller Kritik eine gewisse Logik: „Die zur Gänze digitalisierte Universität ist nicht das Ziel der meisten WissenschaftInnen und der Studierenden, das führt uns die Pandemie gerade überdeutlich vor Augen.“ Ein Universitätscampus sei auch „sowas wie ein Raumschiff, ein extraterritoriales Gebiet“: Das sei etwas genuin anderes als ein Massive Open Online Course (MOOC) oder eine gestreamte Vorlesung. Vitouch: „Das Vorher und Nachher ist bei einem Seminar oder einer Sprechstunde oft genauso wichtig wie das Währenddessen.“

Digitalisierung hält Einzug

Digitalisierung ist ein zentraler Bestandteil der Leistungsvereinbarung 2019–2021 zwischen den öffentlichen Unis und dem Wissenschaftsministerium. Für neue Projekte von insgesamt 35 Antragstellern wurden insgesamt 50 Millionen Euro flüssig gemacht. Es wird also nicht beim „Bedauern“ über die fehlende Präsenzlehre bleiben können, es braucht Ideen und eine bessere Integration von Bildungstechnologien in den Hochschulalltag. Nicht nur Herlitschka hofft, dass es auch nach Corona eine hybride Form der Lehre mit einem Mix aus Anwesenheit am Campus und Online-Vorlesungen bestehen bleibt. „Vielleicht könnte man Massenvorlesungen künftig online abhalten?“, schlägt die Managerin vor.

Zudem sieht man aus internationalen Beispielen, dass die Digitalisierung, vor allem hinsichtlich der Didaktik, wesentlich dazu beitragen kann, Begeisterung für Technik zu vermitteln. Attila Pausits, Hochschulforscher an der Donau-Universität Krems, glaubt, dass es zu einer nachhaltigen Digitalisierung weit mehr braucht als nur Onlinekurse wie MOOC. Digitalisierung bedeute selbstverständlich auch Organisationsentwicklung, und die könne ohne Personalentwicklung nie auskommen.Dadurch entstünden neue Strukturen und die müssten von der Universitätsleitung unterstützt werden – zum Beispiel sollte die Medienkompetenz von Lehrenden und Studierenden gefördert werden. „Es braucht ein Digital Learning Service mit Fachkräften, die Trainings für die Präsenz vor der Kamera abhalten, die Systeme implementieren können und auch daran arbeiten.“ Auch abseits der Lehre müsse es Trainings im Umgang mit digitalen Plattformen geben – Forschungskooperationen über Landesgrenzen hinaus seien im Zuge der Pandemie mehr geworden.

„Ich muss als Hochschulmanagerin oder Wissenschafter mit Vielfalt in den Aufgaben umgehen können.“

Attila Pausits

Aus Konkurrenten wurden Partner, in anderen Bereichen blieb man aber im Wettbewerb. Pausits spricht davon, dass es da auch in den Köpfen einen Wandel gab, der nicht leicht zu vollziehen war. Loprieno sieht die Notwendigkeit, die Digitalisierung mehr als bisher auch als soziale, kulturelle Revolution zu verstehen. „Unser Verhalten ändert sich radikal“, sagt der Ägyptologe. Ist man sich dessen bewusst? Seine Schlussfolgerung: „Die Digitalisierung hat in der Gesellschaft im Allgemeinen und in der Universität im Besonderen gerade erst angefangen.“ Oliver Vitouch spricht auch von weitreichenden Änderungen in der Gesellschaft: „Spannend ist, wie Digitalisierung unsere Wahrnehmung, unser Denken, unser Verhalten, unsere Gewohnheiten, unseren Alltag verändert. Freilich, ohne Informatik und Informationstechnik keine Digitalisierung, und ohne Digitalisierung wenig Wirtschaftswachstum. Aber in Wirklichkeit ist es ein Thema, das fast alle Wissenschaften angeht – und das vom Content nicht zu trennen ist.“

Steuerung und Organisation

Was aber bedeutet das für die Universitäten im Digitalisierungsprozess? Hochschulforscher Pausits mahnt, die notwendigen Normierungen, Regelungen und Standards, die jede Digitalisierung begleiten, zu bedenken. „Das kann die Innovationskraft an einer Uni auch einschränken“, gibt er zu bedenken. Der Freiraum für Ideen, für Gedankenspiele müsse ohne Zweifel bestehen bleiben, ansonsten würde sich die Hochschule möglicherweise sogar dessen berauben, was seit Jahrhunderten ihr Mantra ist: neue Erkenntnisse, die oft zufällig entstehen und bahnbrechend sind, zu ermöglichen.

Viele Universitätsrektorinnen und -rektoren fragen sich angesichts aktueller Anforderungen immer öfter, ob genau das noch wirklich im Zentrum der Institution steht: Erkenntnisgewinn, Forschung, Lehre. Die Digitalisierung kann ja im besten Fall unterstützend wirken, aber wie ist das mit altbekannten Forderungen wie mehr Öffentlichkeitsarbeit, mehr Publikumsnähe und der „unternehmerischen Universität?“, Aktivitäten, die als „Third Mission“ bezeichnet werden, die Vernetzung der Universität mit der Gesellschaft, mit der Wirtschaft. Pausits sieht das als Notwendigkeit. „Der Umgang mit mehr Komplexität in der Gegenwart bedeutet für mich nicht, dass ich einfach einen Teil ignoriere und damit hoffe, besser auszukommen. Ich muss als Hochschulmanagerin oder Wissenschafter mit Vielfalt in den Aufgaben umgehen können.“

„Die österreichischen Unis haben dann eine Chance, wenn sie nicht mit Aufgaben überfrachtet werden.“

Oliver Vitouch

Forschende müssten sich selbst, ihre Forschungsergebnisse und deren Relevanz verkaufen können, sagt Vitouch. „Das reicht vom klassischen Interview über Blog und Buch-Klappentext bis zur Social-Media-Präsenz.“ Bei den Management-Aktivitäten ist die Situation unterschiedlich: „Die braucht die Laborwissenschafterin in viel höherem Maße als der einzelgängerische Geisteswissenschafter.“ Es geht darum, Drittmittel einzuwerben, Kooperationen möglich zu machen, schlicht die Finanzierung des Labors und der darin begonnenen Arbeit sicherzustellen. Dabei geht es nicht nur um bahnbrechende Forschungsergebnisse, die man andernfalls vermutlich nicht veröffentlichen könnte, da geht es um menschliche Existenzen.

Mehr als Management

Infineon-Chefin Herlitschka meint sogar, dass es für die Universitäten längst verpflichtend wäre, Führungspositionen nicht nur nach akademischen Regeln, nach der Qualität der Forschung und Lehre, sondern auch nach Kriterien des Managements zu besetzen. Aber besteht dabei nicht die Gefahr, dass unternehmerisches Denken die wichtigste Handlungsmaxime wird? Pausits sieht hier zwei Extreme im Umgang mit der Thematik. Nur unternehmerisches Denken wäre zu wenig. Die reflexartige Ablehnung von allem, was Management im Uni-Betrieb bedeutet, sei aber auch verkehrt. Wissenschaftsrat-Chef Loprieno ist da ganz ähnlicher Meinung. Unis hätten ihre Marke schon klar zu positionieren, sagt er. „Die Frage ist immer, bin ich irgendeine Cola oder bin ich Coca-Cola, etwas Spezielles.“ Es sei aber essenziell, die Qualität von Forschung und Lehre nicht außer Acht zu lassen. Pausits würde das gar nicht abstreiten. Oder wie es Klagenfurts Rektor Vitouch mit Bezug auf die spezifisch österreichische Situation sagt: Im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums der Universität Wien habe der damalige Vice-Chancellor der Universität Cambridge, Sir Leszek „Boris“ Borysiewicz, bei einer Pressekonferenz gemeint: „Wir dienen der Gesellschaft, indem wir lernen, lehren und forschen auf allerhöchstem Niveau.“ Erübrigt sich also die Third Mission? Das sagt Vitouch nicht. Die österreichischen Unis hätten dann eine Chance, „wenn sie nicht mit Aufgaben überfrachtet werden – wenn sie genug Zeit auf die First und Second Mission, die Forschung und das Hervorbringen ausgezeichneter Absolventen und Absolventinnen, verwenden dürfen – und wenn sie adäquat budgetiert werden.“


SABINE HERLITSCHKA 
DI Dr. Sabine Herlitschka, MBA ist Vorstandsvorsitzende der Infineon Technologies Austria AG. Davor fungierte Herlitschka u. a. als Bereichsleiterin Europäische und Internationale Programme der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft und als Vizerektorin für Forschungsmanagement und Internationale Kooperationen der Medizinischen Universität Graz.

ATTILA PAUSITS 
Univ.-Prof. Dr. habil. Dipl.-Kfm. Attila Pausits leitet an der Donau-Universität Krems das Department für Hochschulforschung. Der Professor für Hochschulforschung und -entwicklung ist Vorstandsvorsitzender der European Higher Education Society (EAIR) und u. a. Mitbegründer und Sprecher des österreichischen Netzwerks für Hochschulforschung.

ANTONIO LOPRIENO 
Prof. Dr. Antonio Loprieno ist Vorsitzender desWissenschaftsrats. Der Ägyptologe ist Professor an der Universität Basel, Schweiz, als deren Rektor er von 2006 bis 2015 fungierte. Im Rahmen seiner zahlreichen Funktionen im internationalen und Schweizer Wissenschaftsbetrieb war er u. a. Präsident der Schweizerischen Rektorenkonferenz (2008 bis 2014).

OLIVER VITOUCH 
Univ.-Prof. Dr. Oliver Vitouch ist seit 2012 Rektor der Universität Klagenfurt. Der Psychologe und Kognitionswissenschafter war von 2015 bis 2016 Präsident der Alps-Adriatic Rectors’ Conference (AARC). Von 2016 bis 2017 war er Präsident, seither ist er Vizepräsident der österreichischen Universitätenkonferenz (uniko).

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