Wie die Bewältigung komplexer Themen gelingt.  Und warum das in der Politik besonders schwierig ist.

Ein Kommentar von Irmgard Griss 

Dass die Welt immer komplexer wird, ist nicht nur ein Gefühl. Es ist eine Tatsache. Denn die zunehmende Komplexität ist eine logische Folge der fortschreitenden Vernetzung und Verknüpfung im weltweiten Maßstab, auch Globalisierung genannt. Immer mehr Faktoren bestimmen unser Leben. Faktoren, die wir teils gar nicht kennen, teils zwar kennen, von denen wir aber nicht wissen, wie groß ihr Einfluss ist und zu welchen Wechselwirkungen es kommt. Die Pandemie ist ein Beispiel dafür.

Wie gehen wir mit Komplexität um? Keine leichte Aufgabe, wie die gemischten Erfahrungen mit den Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus zeigen. In einem sich ständig ändernden Umfeld müssen politische Entscheidungen von großer Tragweite getroffen werden. Als Orientierung dienen Modelle, die Simulationsforscher entwickeln. Dennoch bleibt die Ungewissheit groß, denn die Wirklichkeit ist immer wieder für Überraschungen gut. Dafür offen zu sein und Raum zu lassen für die Reaktion auf unerwartete Wendungen, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung komplexer Aufgaben. Denn aus unerwarteten Wendungen können sich unverhofft neue Erkenntnisse ergeben. Ebenso wichtig ist es, die „weißen Flecken“ zu identifizieren. Sich klar darüber zu sein, dass und was man (noch) nicht weiß, ist ebenso wichtig wie die Kenntnis des schon Erkennbaren.

Auch als Richterin hatte ich immer wieder komplexe Verfahren zu führen. Die Rechtslage war unklar, der Sachverhalt undurchsichtig, die Verfahrensbeteiligten schwer einzuschätzen. Um dennoch in vertretbarer Zeit zu einer Entscheidung zu kommen, war es notwendig, das Verfahren und den Prozessstoff klar zu strukturieren. Das heißt, die Beweise in der Reihenfolge aufzunehmen, die den größten Erkenntnisgewinn verspricht. Denn je mehr man weiß, desto gezielter kann man Zeugen fragen und Urkunden auswerten. Und je klarer der für die Entscheidung wesentliche Sachverhalt strukturiert wird, desto leichter ist es, ihn rechtlich richtig zu beurteilen.

Meine Erfahrungen als Richterin haben mir als Mitglied von Kommissionen und auch in der Politik sehr geholfen. Auch hier geht es immer wieder darum, komplexe Themen zu bearbeiten. Und auch hier wird die Arbeit erleichtert, wenn der Arbeitsprozess klar strukturiert wird. In der Politik bleibt es dennoch schwierig. Denn es gibt viele Mitspieler mit ganz unterschiedlichen Interessen. An einem klar strukturierten Arbeitsprozess führt zwar auch hier kein Weg vorbei; er ist aber wegen der oft sachfremden Interessen keine Erfolgsgarantie. Das sollte uns bei der Beurteilung der Politik in Pandemie-Zeiten etwas milder stimmen.


IRMGARD GRISS
Dr. Irmgard Griss war  von November 2017  bis Oktober 2019 Abgeordnete zum Österreichischen Nationalrat. Von 1979 bis 2011 war sie als Richterin tätig und von 2008 bis 2016  Ersatzmitglied des  Verfassungsgerichtshofs. Griss studierte Rechtswissenschaften an der Universität Graz, sowie  International Legal  Studies an der Harvard Law School.

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