Vor über zehn Jahren wurde die Rot-Weiß-Rot-Karte installiert, um besonders Hochqualifizierte und Schlüsselkräfte ins Land zu holen. Das Instrument hat sich bewährt, muss aber dringend überarbeitet werden: weniger Bürokratie, schnellere Abläufe, zielgenaue Kriterien.

Von Gunnar Landsgesell

Vor mehr als zehn Jahren haben die Wirtschaftskammer Österreich, die Industriellenvereinigung und die IOM (International Organisation for Migration) ein Konzept entwickelt, um Hochqualifizierte und Schlüsselkräfte aus Drittstaaten anzusprechen. Es ging darum, Fachkräfte in Mangelberufen zu rekrutieren, die der Wirtschaft dringend fehlten. Das Tool nannte man Rot-Weiß-Rot-Karte, kurz RWR. Als Vorbild dienten Zuwanderungsländer wie Kanada, Australien und Neuseeland.

Zehn Jahre später fällt die Bilanz grundsätzlich positiv aus. Die nackten Zahlen zeigen, es hat sich etwas bewegt: Wurden im ersten Jahr 600 RWR-Karten vergeben, waren es im vergangenen Jahr rund 2.400 (gesamter Bestand: 4.700). Darüber hinaus besitzen heute 102.000 Menschen eine RWR-Karte+. Die Karte mit dem „plus“ erhält man nach zwei Jahren Niederlassung in Österreich, die Familienmitglieder erhalten sie automatisch. Der Aufenthalt ist auf maximal drei Jahre befristet, bindet einen aber nicht mehr an jenen Arbeitgeber, über den man ins Land gekommen ist. So weit die Zahlen. Trotz einiger kleinerer Korrekturen über die Jahre häufen sich aber die Forderungen nach einer größeren Reform: Die Kritik ist umfassend: Die Anforderungen sind zu eng formuliert, die bürokratischen Abläufe lähmend, das solchermaßen nicht ausgeschöpfte Potenzial ist beachtlich.

In der WKO sieht man, dass sich das System grundsätzlich bewährt hat. „Das Haus steht auf einem guten Fundament“, sagt Julia Moreno-Hasenöhrl, von der Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit. „Doch jetzt muss man noch ein paar Dinge am Haus entwickeln und verbessern.“ Es sei eine jahrelange Forderung der WKO an die Regierung, „dass man die Verfahren beschleunigt und auch digitalisiert. Mit der vorhandenen Bürokratie stellen wir uns leider immer noch ein Bein. Wichtig wäre, dass die Verfahren transparent ablaufen, dass telefonische Auskunft möglich ist und dass man erfährt, ob zum Beispiel noch ein Dokument fehlt, so dass man das rasch nachreichen kann. Auch hier wären digitalisierte Abläufe wichtig, weil vieles immer noch mit der Diplomatenpost aus den Herkunftsländern nach Österreich geschickt wird. Da gilt es, schneller zu werden.“ Das sei auch insofern wichtig, als Österreich in einem internationalen Wettbewerb um die besten Talente stehe. „Mittlerweile gibt es in ganz Europa und den USA einen Fachkräftemangel, ein regelrechter ‚war for talent‘ ist in vollem Gange“, so Moreno-Hasenöhrl. Für Österreich bedeute das erstens, auf sich aufmerksam zu machen und zweitens, ein rasches und effektives System zu installieren.

„Mittlerweile gibt es in ganz Europa und den USA einen Fachkräftemangel, ein regelrechter ‚war for talent‘ ist in vollem Gange.“

Julia Moreno-Hasenöhrl

Tatsächlich gibt es bereits einen Ministerratsvortrag für weitere Adaptionen, noch befindet man sich aber mit der Erstellung einer neuen Plattform, die alle Abläufe zentralisiert, in der Warteschleife. Unklar scheint auch die Rolle der Austrian Business Agency (ABA), die als Agentur für Betriebsansiedelungen zuständig sein soll. Soll sie künftig auch Schlüsselkräfte vermitteln? Gudrun Biffl, Arbeitsökonomin, zeigt sich skeptisch. „Falls das wirklich über die ABA laufen soll, glaube ich gar nicht, dass es dort schneller geht, weil man dort auch das AMS einbeziehen muss. Die ABA ist nur die Brücke zwischen dem AMS und den Betrieben. Während im AMS schon eine gewisse Expertise aufgebaut wurde, muss die in der ABA erst entwickelt werden.“ Biffl glaubt, dass auf diese Weise Strukturen nicht effizienter, sondern komplizierter würden.

Neue Ideen über Zuwanderung

Ganz grundsätzlich spricht sich die Wirtschafts- und Migrationsforscherin für eine deutliche Stärkung des Instruments der RWR-Karte aus und streicht neben den ökonomischen auch die Vorteile hinsichtlich neuer Ideen über Zuwanderung heraus. „Innovation“, so Biffl, „findet dort statt, wo Menschen ihre Köpfe zusammenstecken. Auch die Österreicher_innen werden innovativer, wenn sie mit jemandem zusammenarbeiten, der anders denkt und tickt, und aus einer Kultur kommt, die neue Denkansätze hereinbringt.“ Deshalb sei es dringend nötig, bei der RWR-Karte an mehreren Schrauben zu drehen. Wichtig wäre, hochqualifizierte Arbeitskräfte aktiv anzuwerben. Über Botschaften funktioniere das zu langsam und zu umständlich, internationale Agenturen würden sich als Drehscheiben besser eignen. Aber auch die Website migration.gv.at sei viel zu rigide und nicht sehr einladend formuliert. Biffl: „Man braucht ein Welcome-Service, das jeden potenziellen, hochqualifizierten Zuwanderer unterstützt. Man muss den Leuten schon das Gefühl geben, dass man sie hier unbedingt haben möchte.“ Nicht zuletzt gelte es, die eigenen Vorgaben zu überdenken: Einige Kriterien, etwa das Einkommen im Herkunftsland, hält Biffl für „naiv“. „Wenn ich jemanden aus Afrika, aus Russland oder auch Südamerika haben möchte, dann sind das eventuell ‚brilliant minds‘, die aber kein großes Einkommen vorweisen können. Oder will ich nur die Reichen? Aber die kriege ich nicht, die spielen schon in ihrem Land in der Oberliga.“ Zu überdenken wäre also, welche Personen man genau ansprechen möchte, und wie man die dazu passenden Kriterien formuliert.

Scheitern am Punktesystem

Die Rot-Weiß-Rot-Karte sieht ein Punktesystem vor, über das man sich u. a. als besonders Hochqualifizierter, als Fachkraft in Mangelberufen, als Schlüsselkraft oder als Start-up-Gründer_in qualifizieren kann. Hakan Kilic, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Migration und Globalisierung, hat den Punkterechner selbst ausprobiert – und ist an den Anforderungen gescheitert. „Ich habe meine Daten eingegeben, als hätte ich nicht in Österreich studiert, sondern wäre in der Türkei. Aber ich erreiche die Punkteanzahl nicht. Man muss ja mindestens 70 Punkte haben. Ich lande bei 65 Punkten. Der Punkterechner ist sehr komplex aufgebaut, die Fragen, die hier gestellt werden, sind nicht immer schlüssig. Würden Publikationen in Fachzeitschriften zählen, wenn sie nicht auf Englisch, sondern auf Türkisch wären? Oder ist es wirklich zielführend, strikte Altersgrenzen einzuziehen? Mit 35 Jahren bin ich noch im Rennen, mit 36 Jahren falle ich heraus. Sollte die Beurteilung nicht primär durch geschultes Personal erfolgen? Solche Pauschalisierungen sind jedenfalls problematisch, weil hier nicht auf die individuellen Ressourcen von Menschen eingegangen wird. Der Punkterechner müsste dringend überarbeitet werden.“

„Mit Migration entstehen mehr Beschäftigung und höhere Produktion, die Steuereinnahmen steigen, Innovation wird angekurbelt.“

Hakan Kilic

Am stärksten hakt es laut Kilic derzeit aber an der Umsetzung, an den behördlichen Regelungen, an der Bürokratie, am Mangel an Flexibilität. „Wenn man eine Aufenthaltsgenehmigung, eine Arbeitserlaubnis und viele weitere Dokumente braucht, man dafür von Behörde zu Behörde muss, dann bedeutet das einen enormen Verwaltungsaufwand. Und es kostet Zeit. Das Regelwerk gibt als Zeitrahmen acht Wochen vor, das ist aber einfach nicht machbar. Sobald eine Kopie schlecht lesbar ist, wandert der Akt schon wieder ganz unten in den Stapel.“ In den Medien wurde von IT-Unternehmen berichtet, die Arbeitskräfte nach Österreich holen wollten, sie brauchten dafür fünf bis sechs Monate. In Deutschland sei das, so Kilic, in wenigen Tagen, maximal in ein bis zwei Wochen abgewickelt. Probleme sehe man auch bei Uni-Absolvent_innen aus Drittstaaten. Weniger als 20 Prozent bleiben in Österreich. Das habe mit bürokratischen Hürden, aber auch mit geforderten Einkommen zu tun. „Ein frisch gebackener Uni-Absolvent, der mehr als 2.000 Euro netto verdienen soll, das ist nicht unbedingt alltäglich in Österreich.“ Auch wenn schon einiges reformiert wurde, sei in der Art, wie man hochqualifizierte Arbeitskräfte anzuwerben versucht, zu spüren, dass Migration in Österreich eigentlich negativ gesehen wird. Dabei seien die ökonomischen Vorteile statistisch belegt: „Mit Migration entstehen mehr Beschäftigung und höhere Produktion, die Steuereinnahmen steigen, Innovation wird angekurbelt. Das sieht man auch in den USA, wo die Spitzenplätze der wertvollsten und innovativsten Unternehmen eben nicht nur von Amerikanern besetzt sind.“

Gunnar Landsgesell ist Chefredakteur von „MO – Magazin für Menschenrechte“.


JULIA MORENO-HASENÖHRL
Mag.a Julia Moreno-Hasenöhrl ist Abteilungsleiter-Stellvertreterin der Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit in der Wirtschaftskammer Österreich. Zu ihrem Arbeitsbereich gehören die Themen Fachkräftesicherung, New Work, qualifizierte Zuwanderung, Integration, Mentoring für Migrant_innen.

GUDRUN BIFFL
Mag.a Dr.in Gudrun Biffl ist Arbeitsökonomin sowie Wirtschafts- und Migrationsforscherin. Sie arbeitete lange am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) und hielt bis 2017 eine Professur an der Universität für Weiterbildung Krems. Zahlreiche Projekte und Publikationen zu den Themen Arbeitsmarkt, Bildung, Migration und Integration, Gender und Institutionenwandel.

HAKAN KILIC
Mag. Hakan Kilic ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Migration und Globalisierung der Universität für Weiterbildung Krems. Er studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien. Er forscht im Rahmen seiner Dissertation zum Thema Rückkehrmigration von hochqualifizierten türkischstämmigen Personen von Österreich in die Türkei.

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