Ist verstärkte Entwicklungszusammenarbeit die Antwort auf Migrationsbewegungen Richtung Europa? Eine Spurensuche im Spannungsfeld Entwicklungspolitik, wirtschaftliche Kooperation und Migration. 

Von Milena Österreicher

Entwicklungspolitik ist wieder „gefragt“. Zumindest lassen dies die politischen Diskurse und Strategien der vergangenen Jahre vermuten. Besonders seit dem Jahr 2015, als die Migrationsbewegungen Richtung Europa – mit einem Rekordwert von 1.321.600 Asylanträgen – ihren Höhepunkt erreichten, wurde „Hilfe vor Ort“ beschworen. Die Annahme, dass die Entwicklung der Herkunftsländer Migrationsbewegungen stoppen oder reduzieren könne, beherrscht die Politiken internationaler Organisationen sowie nationaler Akteure und Akteurinnen.

Die Europäische Kommission entwickelte 2015 neue Maßnahmen, unter anderem den fünfjährigen EU Treuhandfonds für Afrika, der Projekte in 26 afrikanischen Partnerländern finanziert. Der Geldtopf von rund fünf Milliarden Euro, gespeist vor allem aus europäischen Entwicklungsmitteln, sollte Entwicklungshilfe und Migrationspolitik verbinden, um damit Fluchtursachen zu bekämpfen sowie Migration besser zu steuern. In Österreich wurde 2016 nach vorheriger kontinuierlicher Kürzung das Budget für Entwicklungszusammenarbeit, kurz EZA, erstmals wieder erhöht.

„Migration und Entwicklungszusammenarbeit waren bis Ende des 20. Jahrhunderts zwei Bereiche, die unabhängig voneinander sowohl politisch als auch wissenschaftlich behandelt wurden“, erklärt Petra Dannecker, Entwicklungssoziologin an der Universität Wien. Erst zu Beginn der 2000er Jahre wurden im Kontext der Debatten um den sogenannten Migrations- und Entwicklungsnexus beide Bereiche verknüpft. Fokussiert wurde daraufhin bis in die 2010er Jahre auf die Rolle von Migrant_innen für Entwicklung, das heißt, wie Menschen, die migrieren zur Entwicklung der Herkunftsländer beitragen können. Vor allem die durch die Weltbank veröffentlichten Zahlen über die sogenannten Remittances, Gelder, die Migrant_innen in ihre Herkunftsregionen zurückschicken, führten dazu, dass Migrant_innen als Entwicklungsakteure ‚entdeckt‘ und ihre Rolle zur Armutsreduktion und wirtschaftlichen Entwicklung in ihren Herkunftsregionen diskutiert und gefördert wurde.

Wie ein OECD-Bericht zeigt, betrugen die Remittances bereits 2006 mehr als die Mittel öffentlicher Entwicklungshilfe, nämlich 206 Milliarden US-Dollar im Gegensatz zu 100 Milliarden Entwicklungshilfe. 2019 berichtete die Weltbank, dass Remittances die größte Quelle für Auslandsfinanzierung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen – mit Ausnahme von China – waren. Die offiziell erfassten Überweisungen beliefen sich 2018 auf einen Rekordwert von 529 Milliarden US-Dollar.

Perspektivenwechsel

Besonders seit den Migrationsbewegungen Richtung Europa 2015 und 2016 beobachtet Entwicklungsexpertin Dannecker einen deutlichen Perspektivenwechsel in der Praxis. Die Devise lautet nun: Entwicklungszusammenarbeit vor Ort als wichtiger Faktor, um Ursachen der Migration, wie hohe Arbeitslosigkeit, Armut oder wenig Bildungs- und Aufstiegschancen, zu bekämpfen und so beizutragen, dass Menschen ihre Heimatregion nicht verlassen.

Die höheren Entwicklungshilfezahlungen sind allerdings mit Vorsicht zu betrachten, wie eine Studie von Entwicklungsexpert_innen im Rahmen des deutschen Projekts Mercator Dialogue on Asylum and Migration (MEDAM) aus dem Jahr 2019 zeigt. Sie führt an, dass die Erhöhung der Entwicklungshilfe in OECD-Ländern in den vergangenen Jahren vor allem auf höhere Ausgaben für Geflüchtete in den Geberländern selbst zurückzuführen ist. Mehr als 25 Prozent der geleisteten Hilfsgelder wurden demnach nicht in Herkunftsländern der Geflüchteten und Migrant_innen eingesetzt, sondern blieben im eigenen Land.

Kein kausaler Zusammenhang

Die empirische Lage spricht gegen einen kausalen Zusammenhang zwischen Entwicklungszusammenarbeit und Migrationsverhinderung. Kurzfristige Programme, die dies zum Ziel hätten, seien zu wenig umfassend und von zu kurzer Dauer, beschreibt es der niederländische Migrationsexperte Hein de Haas in einem Paper für die Universität Oxford.

„Grundsätzlich hängen Entwicklung und Migration natürlich zusammen, aber nicht unbedingt in der vom Globalen Norden erwünschten Weise“, so Entwicklungssoziologin Petra Dannecker. Soziale, politische und auch wirtschaftliche Entwicklung können mittelfristig sogar zum Gegenteil führen und die Mobilität der Menschen, die auch zu Migration führt, erhöhen.

In ärmeren Ländern nimmt die Migrationsneigung ab dem Zeitpunkt der Erreichung eines Pro-Kopf-Einkommens von 8.000 bis 10.000 US-Dollar tendenziell zu. Denn Migration kostet viel Geld und wird folglich erst ab einem gewissen Einkommen leistbar. Zudem eröffnet der Zugang zu Informationen, Wissen und Bildungsmöglichkeiten neue Perspektiven und Erwartungen, die im eigenen Land nicht zu erfüllen sind.

Vielfältige Gründe

Langfristig könne wirtschaftliche Entwicklung zum Bleiben im eigenen Land führen, wobei es schwierig sei, hier einen Zeitraum zu definieren. Dannecker gibt jedoch zu bedenken, dass Gründe, warum Menschen migrieren, vielschichtiger sind als rein ökonomische Ursachen. Sie forschte in Bangladesch zu temporärer Arbeitsmigration nach Südostasien und in den Mittleren sowie Nahen Osten. „Migration ist dort eine wichtige Entwicklungsstrategie, die von der Regierung unterstützt wird“, sagt Dannecker. Der Export von „Manpower“ sei im Fünfjahresplan verankert.

„Aber ich habe auch viele junge Frauen interviewt, die als temporäre Migrationsgründe angaben, sie wollten einfach einmal im Flugzeug sitzen, oder sie sahen Migration als einzigen Ausweg aus gewalttätigen Beziehungen“, erzählt Dannecker. Es gebe auch viele junge Männer, die nicht freiwillig migrierten, die aber als älteste Söhne von der Familie ins Ausland geschickt würden, um über Remittances die Familie zu Hause zu unterstützen.

„Migration ist zu einem Hot Topic bei den Verhandlungen über Handelsabkommen und wirtschaftliche Zusammenarbeit geworden.“

Federica Zardo

Hier könnte Entwicklungszusammenarbeit auch diverser angewandt werden. „Sie kann beispielsweise unterstützend eingesetzt werden, indem zirkuläre Migrationsregime durch Mobilitätspartnerschaften und Skill-Partnerschaften ermöglicht werden“, meint Mathias Czaika, Migrationsforscher an der Universität für Weiterbildung Krems. Auf diese Weise könne Entwicklungshilfe migrationspolitisch einen Beitrag leisten. Menschen seien schon seit jeher migriert, aber auch wieder zurück in ihre Heimat gekehrt. „Zahlreiche Studien zeigen, dass für einen großen Teil internationaler Migrant_innen die Rückkehr ins Heimatland Teil der Lebensplanung darstellt. Dies galt sowohl für Menschen, die im 19. Jahrhundert von Europa nach Nordamerika ausgewandert sind, genauso wie für Gastarbeiter_innen in den 1950er bis 1970er Jahren oder rezentere Migration nach Europa oder auch innerhalb Europas. Grundsätzlich gilt: Je schwieriger sich die Zuwanderung für einzelne Migrant_innen darstellte, desto geringer ist deren Neigung zurückzukehren, auch wenn sich eine verbesserte ökonomische Situation in ihren Heimatländern grundsätzlich positiv auf die Rückkehrbereitschaft auswirkt“, sagt Czaika (siehe auch sein Interview auf Seite 15).

Da das Thema Migration aber so stark politisiert wird, fehle meist ein differenzierter Blick darauf, so Dannecker. Zudem müsse auch über postkoloniale Strukturen und Abhängigkeitsverhältnisse nachgedacht werden, die auch ursächlich dafür seien, dass Menschen migrieren. „Wir müssten uns ernsthaft mit diesen Ungleichheiten beschäftigen, zum Beispiel mit den Fragen, wie sich die EU-Agrarpolitik auf den Globalen Süden auswirkt; was es für lokale Wirtschaften bedeutet, wenn wir unsere Altkleider in afrikanische Länder schicken; oder die Thematik, dass Menschen vom Klimawandel betroffen sind, die nicht die Hauptverursacher waren.“

„Bei fast zwei Dritteln der Menschen wird der Schutzstatus abgelehnt. Wir brauchen eine klare Kommunikation nach innen sowie nach außen, wer Schutz in Europa zugesprochen bekommt.“

Nina Gregori

Keine explizite EZA

Zurück auf die Ebene der EU. Auch hier zeigt sich das Zusammenwachsen der Bereiche Migration und Entwicklungszusammenarbeit. So ist der frühere Europäische Entwicklungsfonds (EDF) im Rahmen des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021–2027 im außenpolitischen „Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und Internationale Kooperation“ (NDICI) aufgegangen. NDICI ist mit 79,5 Milliarden Euro ausgestattet. Für Entwicklungshilfe ist künftig kein eigenes Budget mehr vorgesehen. Rund ein Zehntel des neuen Instruments soll für Migrationsmanagement bestimmt sein. Zivilgesellschaftliche Akteur_innen kritisieren, dass Ziele der Entwicklungszusammenarbeit damit in den Hintergrund treten, und vorwiegend in Grenzkontrollen und die Externalisierung der EU-Außengrenzen investiert wird.

Ein Perspektivenwechsel lässt sich auch im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit beobachten, so Federica Zardo, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Migration und Globalisierung an der Universität für Weiterbildung Krems: „Migration ist zu einem Hot Topic bei den Verhandlungen über Handelsabkommen und wirtschaftlicher Zusammenarbeit geworden“. Einerseits beharre die EU auf Konditionen, die mit Migrationsfragen verknüpft sind, wie etwa Rückübernahmeabkommen oder Grenzkontrollmaßnahmen. Gleichzeitig setzten Drittstaaten das Thema Migration wirksam in den Verhandlungen ein, um ihrerseits Ziele, wie visafreie Einreise oder ökonomische Unterstützung zu erhalten. „Auch wenn für Drittländer das Thema Migration oft keine große Rolle in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit spielte, wissen sie es als eine Art Widerstandsmittel gegen den Druck von Europa einzusetzen“, beschreibt Zardo.

In diesem Sinne habe wirtschaftliche Zusammenarbeit als Instrumente der Migrationspolitik an Bedeutung gewonnen. Ein Beispiel sei das „Übereinkommen für eine Vertiefte und umfassende Freihandelszone“, das die EU mit Ländern aus Nordafrika, etwa Tunesien und Marokko, abschließen möchte. „Auf dem Papier ist es ein wirtschaftliches Abkommen, aber viele Prioritäten liegen hier deutlich auf Migrationsfragen“, beschreibt Zardo.

Die EU setzt aber auch auf Investitionen im Globalen Süden. Das EU-Investitionsprogramm „Global Gateway Initiative“, das 2021 beschlossen wurde und 300 Milliarden Euro an Investitionen aus staatlichen sowie privaten Quellen mobilisieren will, soll künftig Länder des Globalen Südens beim Aufbau wichtiger Infrastruktur und bei der Digitalisierung unterstützen. Das Programm folgt auf die chinesische Seidenstraßen-Initiative, durch die China seit 2013 seinen geopolitischen Einfluss ausbaut.

Weg nach Europa

Neben Wirtschaftsfragen und der EZA beschäftigt im Bereich Migration aber auch das Thema Asyl die EU-Mitgliedsstaaten. Inzwischen ist die Zahl der Asylanträge EU-weit auf 471.630 (2020) zurückgegangen, wie aus Daten des UNHCR hervorgeht. Die Zahlen sind – auch pandemiebedingt – auf ein Niveau ähnlich wie im Jahr 2013 gesunken.

Nina Gregori, Direktorin der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA), die die Mitgliedsstaaten bei der Zusammenarbeit im Asyl-Bereich unterstützt, betont die Notwendigkeit eines effektiven gemeinsamen europäischen Asylsystems, das schnelle und faire Asylverfahren gewährleistet. „Wir brauchen rasche Verfahren, die nicht erst nach fünf Jahren abgeschlossen werden“, sagt Gregori. Sie gibt zu bedenken, dass die aktuelle Asyl-Zuerkennungsrate EU-weit bei rund 35 Prozent liegt. „Das heißt, bei fast zwei Dritteln der Menschen wird der Schutzstatus abgelehnt. Wir brauchen hier eine klare Kommunikation nach innen sowie nach außen, wer Schutz in Europa zugesprochen bekommt“, meint die EUAA-Direktorin. Gleichzeitig brauche es ernsthafte Überlegungen, wie Arbeitskräfte, die auf europäischen Arbeitsmärkten gebraucht werden, angesprochen und legale Migrationswege erleichtert werden können.

Gregori sieht hier neben den EU-Organen auch die Politiker_innen auf der nationalen Ebene in der Pflicht, diese Botschaften zu kommunizieren. Dem stimmt auch Petra Dannecker zu: „Es ist durch Studien belegt, dass die meisten westlichen Länder Migration schon allein aus demographischen und Arbeitsmarktgründen brauchen.“ Ohne Zuwanderung wäre die EU-Bevölkerung beispielsweise 2019 bei 4,2 Millionen Geburten und 4,7 Millionen Sterbefällen um eine halbe Million geschrumpft. „Es ist an der Zeit, die eigene Bevölkerung darauf vorzubereiten und deutlich zu machen, dass alle in vielfältiger Weise davon profitieren können“, fasst die Entwicklungssoziologin zusammen.


PETRA DANNECKER 
Univ.-Prof.in Dr.in Petra Dannecker, M.A. promovierte in Entwicklungssoziologie an der Universität Bielefeld. Sie leitet seit 2012 das Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien.

MATHIAS CZAIKA 
Univ.-Prof. Dr. Mathias Czaika promovierte in politischer Ökonomie an der Universität Freiburg, Deutschland. Er ist Professor für Migration und Integration und leitet seit 2017 das Department für Migration und Globalisierung an der Universität für Weiterbildung Krems. Davor leitete er das International Migration Institute an der Universität Oxford, Großbritannien.

FEDERICA ZARDO 
Univ.-Ass.in Dr.in Federica Zardo ist seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Migration und Globalisierung an der Universität für Weiterbildung Krems. Zuvor war sie Dozentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

NINA GREGORI 
Nina Gregori ist seit 2019 Direktorin der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA). Zuvor war sie über 20 Jahre im Innenministerium der Republik Slowenien tätig. Zuletzt Generaldirektorin für Asyl, Migration, Integration und interne Verwaltungsangelegenheiten.

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