Welche Möglichkeiten haben Staaten, Migration zu steuern? Welche Zukunftsszenarien sind zu erwarten? „upgrade“ sprach darüber mit Mathias Czaika, Leiter des Departments für Migration und Globalisierung an der Universität für Weiterbildung Krems.

Interview: Milena Österreicher

Herr Czaika, inwiefern haben Staaten die Möglichkeit, in Migrationsbewegungen einzugreifen und diese zu steuern?

Migrationssteuerung ist in begrenztem Umfang und in bestimmten Bereichen möglich, etwa durch entsprechende Anpassungen in den rechtlichen Zugangsbedingungen im Bereich Asyl oder des Familiennachzugs. Es geht aber bei der Migrationssteuerung nicht nur darum, Zuwanderung durch Restriktionen zu reduzieren oder zu verhindern. Die Anwerbung bestimmter Personengruppen oder von Fachkräften, die man aus kurz- oder langfristigen ökonomischen Gründen für notwendig erachtet, stellt ebenso eine migrationspolitische Herausforderung dar.

Wie sieht es im europäischen Kontext mit der Anwerbung von Fachkräften aus?

Die Evidenz zeigt, dass viele Staaten sich oftmals schwertun, spezifische Fachkräfte zu rekrutieren, sowohl im Bereich der Hochqualifizierten als auch im Niedriglohnsektor. Ein aktuelles Beispiel aus Großbritannien: Boris Johnson sucht u. a. händeringend nach LKW-Fahrern, wofür er im Herbst 5.000 Arbeitsvisen, insbesondere für osteuropäische Arbeitskräfte, in Aussicht stellte. Die Nachfrage danach war jedoch sehr gering. Man sieht: Migrationspolitik ist kein Wasserhahn, den man nach Bedarf auf- und zudrehen kann. Wenn man ihn aufdreht, heißt dies nicht automatisch, dass Menschen hereinströmen, und wenn man ihn zudreht, heißt es nicht, dass Menschen wegbleiben.

Von welchen Faktoren hängt die Migrationssteuerung ab?

Sie hängt neben rechtlichen und institutionellen Faktoren wie dem Vorhandensein regulärer Zugangswege auch von deren relativer Attraktivität im Vergleich zu Alternativen in anderen Ländern ab. Aber auch Faktoren wie die Anrechenbarkeit von Abschlüssen, die Existenz von sozialen und transnationalen Kontakten und insbesondere die konjunkturelle und strukturelle Arbeitsnachfrage sind wesentliche Kriterien. Es ist wenig erfolgversprechend, mit allzu restriktiven migrationspolitischen Maßnahmen unerwünschte Zuwanderung auf einem geringen Niveau zu halten, wenn gleichzeitig eine massive strukturelle Nachfrage nach Fach- und Arbeitskräften besteht. Diese Nachfrage will versorgt werden und sie versorgt sich – wenn nicht regulär, dann eben oftmals irregulär.

Migrationsprozesse sind von einer gewissen inneren Dynamik geprägt, da Menschen, falls notwendig, auch Migrationszugangsrouten wechseln. Migration setzt sich daher meist fort, auch wenn migrationspolitisch eingegriffen wird. Menschen nehmen Boote, klettern über Zäune oder greifen mit gefälschten Papieren und mit Hilfe von Schmugglern auf irreguläre Zugangswege zurück. Wichtig ist zu verstehen, dass diese Auswüchse durch migrationspolitische Einschränkungen erst geschaffen werden. Ökonomische Gründe würden ja grundsätzlich dafürsprechen, migrationspolitisch nicht allzu restriktiv zu agieren. Zudem haben wir Evidenz, dass restriktive Maßnahmen im Migrationsbereich zu nichtintendierten Wirkungen führen können.

„Die Bevölkerungsentwicklung innerhalb der Europäischen Union hängt wesentlich von künftigen migrationspolitischen Szenarien ab.“

Mathias Czaika

Welche unerwünschten Folgen wären das?

Wenn man beispielsweise zirkuläre Migrationsregime, das heißt den wiederholt temporären Aufenthalt, durch die Einführung restriktiver Maßnahmen unterbricht, kann das auch die Rückkehr, die Teil eines zirkulären Migrationsprozesses ist, unterbinden. Ein Beispiel sind die Gastarbeiter_innen-Programme in den 60er, 70er Jahren. Die Menschen blieben normalerweise so lange, wie sie als Arbeitskräfte gebraucht wurden bzw. bis sie ihre ökonomischen Ziele erreicht hatten. Der durchschnittliche Aufenthalt waren ein paar wenige Jahre. Ein gutes Drittel der sogenannten Gastarbeiter_innen ist danach in die Heimatländer zurückgekehrt.

Als diese Programme mit der ersten Ölkrise eingestellt wurden, gab es für diese Menschen keinen regulären Zugang mehr zum westeuropäischen Arbeitsmarkt. Dadurch sind viele geblieben, denn Menschen, die sich nicht sicher sein können, dass sie auch ein zweites Mal zuwandern können, wenn sie es schon einmal geschafft haben, zögern zurückzugehen. Man nennt das in der Forschung „pushed into permanent settlement“. Als Folge der dauerhaften Ansiedlung sind dann die Familiennachzüge gestiegen, was dazu führte, dass nach 1973 die Zuwanderung aus den ehemaligen Entsendeländern dadurch sogar zugenommen hat.

Wenn politische Entscheidungsträger wollen, dass Menschen sich nicht dauerhaft ansiedeln, sondern nur temporär als Arbeitskräfte kommen, müssen reguläre Zugangswege, welche Anreize zur Zirkulation ermöglichen, geschaffen werden.

Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Welche Szenarien der internationalen Migrationsprozesse erwarten uns?

Man kann hier nur Trends und grobe Szenarien beschreiben, aber keine exakten Zahlen nennen. Einerseits hat die Migrationsforschung noch nicht die Daten und auch nicht das theoretische und methodische Instrumentarium zur Verfügung, um verlässliche langfristige Prognosen anstellen zu können. Das kann man jedoch mit Wissenschaft und Forschung lösen.

Es bleibt aber die nicht reduzierbare Unsicherheit darüber, wie sich migrationstreibende Faktoren in Zukunft entwickeln werden. Zwar lassen sich gewisse demographische Entwicklungen relativ gut prognostizieren, etwa anhand relativ stabiler Geburten- und Sterberaten. Dennoch hängt die Bevölkerungsentwicklung innerhalb der Europäischen Union wesentlich von künftigen migrationspolitischen Szenarien ab.

Andere Faktoren, wie die Auswirkungen des Klimawandels, sind schwer berechenbar. Geschätzt wird, dass hunderte Millionen Menschen von den Auswirkungen des Klimawandels direkt betroffen sein werden. Die internationale Migration wird jedoch nicht in diesem Ausmaß zunehmen. Zum einen migriert der größte Teil der Menschen innerhalb der betroffenen Länder und Regionen, das heißt, die Binnenmigration wird weiter wesentlich ansteigen. Zum anderen ist und wird die lokale Adaption weiterhin das dominierende Phänomen sein: Haushaltseinkommen werden diversifiziert, indem die landwirtschaftliche Produktionsweise angepasst wird oder einzelne Familienmitglieder saisonal oder temporär in urbane Beschäftigung migrieren.

Fakt ist aber auch, dass vielen Menschen die Möglichkeit fehlt, durch Migration den Auswirkungen des Klimawandels zu entkommen. Mit der möglichen Folge, dass ihr Verbleib im Ursprungsland aus humanitärer Sicht wegen der möglichen drastischen Entwicklungen wie Dürren oder Überflutungen eine größere Herausforderung für die Betroffenen darstellt als die Migration selbst.

Welche weiteren migrationstreibenden Faktoren werden eine Rolle spielen?

Andere Faktoren, wie etwa Konflikte, sind schwer zu prognostizieren, gleichzeitig aber ein wesentlicher Migrationsfaktor. Die Konfliktintensität und -inzidenz ist global gesehen in den letzten Jahrzehnten – besonders nach dem Ende des Kommunismus, dem Fall der Berliner Mauer sowie dem Ende vieler Stellvertreterkriege auf dem afrikanischen Kontinent – stark zurückgegangen. Derzeit ist allerdings wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Wie sich das in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird, ist schwer vorherzusagen.

Ist mit ähnlichen Fluchtbewegungen Richtung Europa, wie es im Jahr 2015 geschehen ist, zu rechnen?

Das schließe ich nicht aus, auch wenn man wohl gewisse Lehren hieraus gezogen hat. Denn man hätte das Ausmaß der damaligen Fluchtbewegung durchaus verhindern können. So ließ man nach Ausbruch des Syrien-Konflikts Menschen, die nach Jordanien, in den Libanon und die Türkei geflüchtet waren, über einen langen Zeitraum unbeachtet und unterversorgt. Und als man die internationale Unterstützung sogar noch reduzierte, hatten sich die Lebensbedingungen in diesen Erstaufnahmeländern dramatisch verschlechtert, was die Menschen dann zum Weiterziehen bewogen hat. Die Prinzipien einer antizipierenden und proaktiven, über Europa hinausschauenden Migrationspolitik muss man in künftigen Krisen, die es mit Sicherheit geben wird, konsequent anwenden.


 

Mathias CzaikaUniv.-Prof. Dr. Mathias Czaika ist ehemaliger Direktor des International Migration Institute an der Universität Oxford, Großbritannien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. die Triebkräfte und Dynamiken internationaler Migrationsprozesse, Migrationspolitik sowie Migration von hochqualifizierten Arbeitskräften, Asylbewerbern und Flüchtlingen. Czaika ist Professor für Migration und Integration und leitet seit 2017 das Department für Migration und Globalisierung an der Universität für Weiterbildung Krems. Er promovierte an der Universität Freiburg, Deutschland, in politischer Ökonomie.

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