Eine der wichtigsten Zutaten erfolgreicher Innovationssysteme kann man nicht kaufen, einrichten oder verordnen: Toleranz. Sie gedeiht nur auf dem Boden von Offenheit und Diversität. Kann Europa Versäumtes nachholen?

Von Johanna Müller

Um 1975 herum müssen die Sterne es gut gemeint haben mit der Welt: In Köln hat ein Kind türkischer Gastarbeiter, der Vater arbeitet bei Ford, die Grundschule geschafft. Jetzt heißt es „hopp oder top?“, Hauptschule oder Gymnasium? Für den Lehrer ist klar, dass ein Gastarbeiterkind auf die Hauptschule gehört. Der Nachbar des Jungen interveniert. Der Junge kommt aufs Gymnasium, studiert Medizin, gründet mehrere Forschungsunternehmen und entwickelt einen Impfstoff, der der ganzen Welt zugutekommt. Der Junge ist Ugur Sahin, jener Ugur Sahin, der gemeinsam mit Özlem Türeci das Technologie-Unternehmen Biontech gegründet hat und einen der beiden mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelte.

Die Geschichte zeigt, wie wenig offen und durchlässig die alten Industriegesellschaften sind. Eine weitere, dass das ihr zugrundeliegende Problem auch heute noch besteht: Als der Impfstoff von Biontech im Dezember 2020 zugelassen wurde, nannte das deutsche Magazin „Focus“ das Entwicklerteam ein „Beispiel für gelungene Integration“. Man kann nun darüber streiten, ob Menschen, die in Deutschland geboren wurden, wie Türeci, oder von ihrem vierten Lebensjahr an dort aufwuchsen, wie Sahin, „integriert“ werden müssen, und ob Integration tatsächlich erst dann als gelungen angesehen werden kann, wenn die Integrierten herausragende Leistungen vollbringen. Aus der Formulierung des Magazins spricht aber noch etwas anderes. Es ist eine alte Bekannte: die wohlwollend paternalistische Haltung von Mehrheitsgesellschaften. Diese Haltung wird zunehmend zu einem größeren Problem werden für die alternden Gesellschaften, die Wissensökonomien sein wollen und sich in globaler Konkurrenz zueinander befinden, sagt Ludovit Garzik, Geschäftsführer des Rats für Forschung und Technologieentwicklung (Rat FTE). Der Grund nämlich, warum Deutschland, Österreich, ja Europa, in den vergangenen Jahrzehnten an Kreativität und Innovationskraft eingebüßt haben, ist, so Garzik, ein scheinbar weicher Faktor: ein Mangel an Toleranz.

Zirkulationsstau

Die Baustellen sind überall, in der Wirtschaft ebenso wie in der Wissenschaft. Beispiel Österreich: In seinem jüngsten „Bericht zur wissenschaftlichen und technologischen Leistungsfähigkeit“ stellt der Forschungsrat auf ein Neues fest, dass Österreich zwar gemessen an den Rückflüssen immer noch gut in den europäischen Forschungsraum integriert ist, bei der Wissenszirkulation aber den Innovation Leaders notorisch hinterherhinkt. Internationale Forschende und Studierende finden hierzulande keine attraktiven Forschungsbedingungen und Forschungsprojekte. Wäre Österreich durch internationale Wissenschafter_innen besser vernetzt, könnte es wesentlich innovativer sein. „Wir müssen uns überlegen, wie wir selbst attraktiv werden können, um generell Zuwanderung anzuziehen. Das geht von multilingualen Kindergärten und Schulen bis hin zu einem Klima, das Diversität aufgeschlossen gegenübersteht“, sagt der Historiker und Migrationsexperte Friedrich Altenburg von der Universität für Weiterbildung Krems. „Sonst haben wir nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern verlieren auf Dauer einen wesentlichen Motor für Innovation.“

Zentren-Verschiebung

Wie dringend ein Umdenken ist, hat eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft kürzlich für Deutschland belegt: Elf Prozent aller in Deutschland eingereichten Patente stammten 2018 von Erfinder_innen mit ausländischen Wurzeln. Wäre dies nicht so gewesen, würde die Erfindertätigkeit in Deutschland seit zehn Jahren schrumpfen, denn jeglicher Zuwachs bei den Patentanmeldungen geht „ausschließlich“ auf Ausländer_innen zurück, heißt es in der Studie. Können Migrant_innen etwas, das eine autochthone Bevölkerung nicht kann?

„Smarte Menschen gehen dorthin, wo sie eine offene und tolerante Gesellschaft vorfinden.“

Ludovit Garzik

„Deutschland oder auch Österreich sind etablierte Wohlstandsgesellschaften“, sagt Garzik. „Im Windschatten des Erfolgs lauert immer die Bequemlichkeit. Es gibt keinen Druck, etwas Neues auszuprobieren, sich neue, höhere Ziele zu stecken.“ Wer eine Heimat verlässt, hat umgekehrt diesen Druck jedenfalls schon einmal verspürt. Die innovativen Zentren dieser Welt haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verlagert. Das ist daran ablesbar, dass heute zwanzig Prozent aller Patentanmeldungen weltweit aus nur zwei Ländern stammen – aus China und Südkorea. Die beiden asiatischen Staaten haben den USA, Japan und Westeuropa längst den Rang abgelaufen. Kreative Hotspots sind auf der ganzen Welt zu finden, vor allem in den Megacities. Darunter sind San Francisco und die Bay Area, aber auch Kigali, die Hauptstadt Ruandas, und Nairobi in Kenia. Die Innovationsforschung hat sich auf die neuen Gegebenheiten längst eingestellt und spricht lieber von „Ökosystemen“ als von Innovationsstandorten. Kreativität und Unternehmergeist müssen vom Menschen her gedacht werden, so der Tenor. „Wenn jemand eine Idee hat und überlegt, wo man damit hingeht, dann werden ihn die Orte anziehen, wo sie oder er ein Team und eine Finanzierung findet; Menschen, die aufgeschlossen genug sind, Wagnisse einzugehen und neue Produkte auszuprobieren. Das heißt, smarte Menschen gehen dorthin, wo sie eine offene und tolerante Gesellschaft vorfinden“, sagt Garzik, der zu den Erfolgskriterien von Innovationssystemen kürzlich auch ein Buch herausgegeben hat.

Fallstrick Kategorisierung

Üblicherweise versuchen Einwanderungsländer, zu kategorisieren: Die Rot-Weiß-Rot-Karte etwa ist ein solcher Versuch, nur jene ins Land zu lassen, die gerade gebraucht werden. Kann es sein, dass sich die europäischen Staaten auf diese Weise Chancen entgehen lassen? „Wir sind schrumpfende, alternde Gesellschaften“, erinnert Garzik. „Wir brauchen tatsächlich Migration auf allen Stufen und nicht nur die Innovator_innen. Wer eine smarte Idee hat, braucht auch Mitarbeiter_innen für den Einkauf, man braucht Leute, die Marketing machen, die etwas bauen können und man braucht Reinigungskräfte für das Büro.“

Anna Steiger, Vizerektorin der TU Wien, hat noch einen anderen Punkt. Das Problem der Kategorisierung sei, dass durch kanalisierende Maßnahmen vermutlich sehr viel Potenzial unentdeckt bleibt: „Wir wissen ja nicht, welche Talente, Fähigkeiten und Ambitionen ein geflüchteter Mensch im richtigen Umfeld noch entwickeln kann.“ Die Universitäten seien in den letzten Jahren offener und auch diverser geworden und hätten von einem Zuwachs an ausländischen Studierenden und wissenschaftlichem Personal mit nichtösterreichischer Herkunft profitiert. „An der TU Wien konnten wir durch Studentinnen und Doktorandinnen aus dem Iran, der Türkei und aus Osteuropa unseren Frauenanteil in den klassischen MINT-Fächern, insbesondere in der Elektrotechnik deutlich erhöhen.“

Als 2015 viele Menschen aus Syrien flohen, initiierte die Universitätenkonferenz (uniko) das Projekt „More“. Dazu gedacht, Geflüchteten und Asylsuchenden eine Perspektive an einer Universität zu geben, setzt sich die Plattform aktuell gezielt für Wissenschafter_innen ein, die in ihrer jeweiligen Heimat Gefahr laufen, an ihrer Arbeit gehindert oder verhaftet zu werden. Aktuell im Fokus ist Afghanistan. „Ganz generell haben wir als TU Wien das Ziel, exzellente Forscher_innen an unsere Hochschule zu holen“, sagt Steiger. Die Talentesuche ist global, was unter Pandemiebedingungen schwieriger ist als sonst.

Unleistbare Intoleranz

Auch wenn die Universitäten auch aus einer Haltung der gesellschaftlichen Verantwortung heraus aufgerufen sind, sich über die selbstverständliche Internationalisierung hinaus für geflüchtete Menschen einzusetzen, wie Steiger meint, die auch die „Taskforce Gender & Diversity“ der uniko leitet, so bleibt doch schlicht die Notwendigkeit der stärkste Motor: Friedrich Altenburg leitet an der Universität für Weiterbildung Krems den Lehrgang „Migrations- und Integrationsmanagement“. Sein Lehrgang wäre ohne ein diverses Team mit Mitgliedern unterschiedlichster Herkunft kaum denkbar: „Jemand, der aus der Mehrheitsgesellschaft kommt, kann über das Thema Diskriminierung kaum etwas sagen“, so Altenburg. Ein weiterer pragmatischer Faktor: „Österreich ist eine Migrationsgesellschaft, zwanzig Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Das sind alles potenzielle Forscher_innen, Unternehmensgründer_innen, Kund_innen und Mitarbeiter_innen, die meist vernachlässigt werden.“ Vernachlässigung können sich die europäischen Gesellschaften heute nicht mehr leisten. Ebenso wenig, wie Intoleranz.


LUDOVIT GARZIK
Dipl.-Ing. Dr. Ludovit Garzik, MBA DWT ist der Geschäftsführer des Rats für Forschung und Technologieentwicklung in Österreich und Autor zahlreicher Bücher und Publikationen über Innovation, Forschung und Bildung.

FRIEDRICH ALTENBURG
Mag. Friedrich Altenburg, MSc ist Historiker und Kommunikationswissenschafter. An der Universität für Weiterbildung Krems leitet er den Lehrgang für Migrations- und Innovationsmanagement am Department für Migration und Globalisierung, dessen stellvertretender Leiter er ist.

ANNA STEIGER
Mag.a Anna Steiger ist die Vizerektorin für Personal und Gender der Technischen Universität Wien und leitet die Taskforce Gender & Diversity der Universitätenkonferenz uniko.

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