Das restriktiv gestaltete Asylrecht der EU lässt Schutzsuchende kaum noch auf europäischen Boden. Krisen wie jene in Afghanistan lassen Resettlement-Programme und humanitäre Aufnahme als effektive Maßnahme erscheinen.

Von Gunnar Landsgesell

Die Bruchlinien im europäischen Asylsystem sind nicht zu übersehen: Berichte über illegale Pushbacks an den EU-Außengrenzen; die Weigerung, Asylwerber_innen nach einem Verteilungsschlüssel EU-weit gerecht aufzuteilen; Bestrebungen, Europa zur „Festung“ auszubauen, während Betroffene kaum noch legal auf europäischem Boden ankommen können, um um Asyl anzusuchen. Die europäische Asylpolitik bzw. ein Ringen um eine solche, hat die parteipolitische Landschaft gestaltet wie wohl kein anderes Thema und ist im öffentlichen Diskurs nur vorübergehend von der Pandemie überdeckt. Im Sommer 2020 erklärte die EU-Kommission, was schon lange klar war: „Das derzeitige System funktioniert nicht mehr.“ Seither wird über einen neuen „Pakt“ für ein „umfassendes europäisches Migrationskonzept“ verhandelt. Ziel ist u. a., verbesserte und schnellere Verfahren, verstärkte Vernetzung und ein „berechenbares Migrationsmanagement“ anstatt Ad-hoc-Lösungen. Wie ein neuer Konsens erzielt werden kann, bleibt abzuwarten. Offensichtlich wurde seit der großen Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015, dass es innerhalb Europas an Solidarität fehlt, während nach außen abgeschottet wird. Christoph Pinter, Büroleiter von UNHCR-Österreich, sagt: „Wir betrachten die Tendenz von Staaten mit Sorge, die versuchen, zu verhindern, dass Flüchtlinge Zutritt zum Hoheitsgebiet und zum Asylverfahren haben. Es ist ein Grundprinzip des internationalen Flüchtlingsschutzes, zu prüfen, wer an meine Tür klopft und ob die Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt werden.“ Derzeit könne man erleben, wie das System des internationalen Flüchtlingsschutzes zunehmend ausgehöhlt werde, so Pinter.

Dass restriktive Politiken innerhalb der EU sich nicht unbedingt kohärent zu globalen Krisen- oder Kriegsszenarien verhalten, darauf weist Martin Wagner vom International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) hin. Wagner sieht im Jahr 2015 eine einschneidende Phase, die zu Angst vor Verlust von Sicherheit geführt hat. „Seither sieht man“, so Wagner, dass die erste Antwort der Politik meist ist, in einen Krisenmodus überzugehen. Auch wenn die Szenarien seither nicht so sind, dass diese Furcht berechtigt wäre. Man denke an die Grenzsituation zwischen Belarus und Polen, die zwar aufgrund der Instrumentalisierung von Menschen dramatisch war, wo die Zahl der Menschen an sich aber überschaubar war. Das gilt auch seit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei. Seither flüchtet man sich verstärkt in solche Abkommen oder strebt sie zumindest an.“ Wie ein kurzer Faktencheck zeigt, ist die Zahl an illegalen Grenzübertritten an den EU-Außengrenzen seit 2015 (bis 2020) stark gefallen. Für politische Rhetorik scheint vor allem das Jahr 2015 der Anknüpfungspunkt zu bleiben.

Umlenkung in Irregularität

Dass durch restriktive Politiken, wie etwa den Zugang zu Asyl oder Resettlement-Quoten zu beschränken, Flucht nicht gestoppt werden kann, darauf weist Heidrun Bohnet vom Department für Migration und Globalisierung der Universität für Weiterbildung Krems hin. Schutzsuchende würden dadurch nur stärker in das Schlepperwesen gedrängt, aktuell an der Afghanistan-Krise zu sehen. Zudem müssen Migrationsströme als komplexe Dynamik verstanden werden, in der bestimmte Maßnahmen zu Effekten anderswo führen. Bohnet: „Im Forschungsprojekt Quantifying migration scenarios for better policy“ haben wir Anzeichen dafür gefunden, dass restriktive Politiken in einem Land oder bei der Festlegung von Einreisekategorien (etwa bei Asyl), Auswirkungen auf Nachbarländer und andere Einreisekategorien (etwa bei Familiennachzug) haben. In anderen Worten: Verschiedene Migrationspolitiken und Migrationsströme sind miteinander räumlich und kategorial verbunden.“ Eine der möglichen Folgen kann die Umlenkung Asylsuchender in die Irregularität sein. Aktuell wird diese Problematik am Beispiel der Afghanistan-Krise deutlich. Angesichts der restriktiven europäischen Asylpolitik, die zudem Schutzsuchende in die Hände von Schleppern treibt, plädiert Christoph Pinter von UNHCR für Wege, Menschen legal ins Land zu holen. Das ginge über Resettlement-Programme und humanitäre Aufnahmeprogramme. Pinter: „Wir haben vorgeschlagen, Student_innen-Visa für Flüchtlinge oder sogar Arbeitsvisa zur Verfügung zu stellen. Man könnte vor Ort schauen, wer die vulnerabelsten Gruppen sind, wer am dringendsten Hilfe braucht.“ Solche„komplementären Fluchtwege“ hält auch Martin Wagner für einen spannenden Ansatz: „Man versucht hier, jene Wege, die für legale Migration vorhanden wären, auch für Geflüchtete zu adaptieren.“ Einige erfolgreiche Beispiele gäbe es bereits, etwa die Western Balkan Regulation, mit der Deutschland die Fluchtbewegung von 2015/16 mit den Möglichkeiten der Arbeitsmigration verbunden hat.

Was Afghanistan betrifft, haben sich mittlerweile 15 EU-Staaten – Österreich ist nicht dabei – darauf geeinigt, 40.000 Menschen im Rahmen von Resettlement-Programmen aus Afghanistan nach Europa zu holen. Ali Ahmad Safi von der Universität für Weiterbildung Krems sieht darin einen wichtigen, eigentlich überfälligen Schritt. Er weist auf die Mitverantwortung des Westens an der Situation von Ländern wie Afghanistan hin. Bereits 2016 wäre ein Memorandum of Understanding zwischen der EU und Kabul vereinbart worden, um die Rückführung von abgelehnten Asylwerbern zu ermöglichen. Diese Vereinbarung kam unter dem Druck zustande, Hilfszahlungen, von denen das kriegsgebeutelte Land massiv abhängt, zu streichen. Safi: „Die EU hat viel Geld in ein von Armut und Kriegen gezeichnetes Land gepumpt. Dabei hat man unweigerlich die Korruption verstärkt, ohne dass die Probleme des Landes gelöst wurden.“ Das sei eine „heikle, schwierige“ Ausgangslage.

In die gleiche Kerbe schlägt auch Nassim Majidi, Ko-Gründerin von Samuel Hall, einem Social Enterprise, das sich auf die Analyse globaler Migrationsbewegungen und Vertreibung spezialisiert hat. Majidi weist, wie auch Safi und Martin Wagner, darauf hin, dass Europa nur einen Bruchteil der weltweit Schutzsuchenden aufnimmt. Zur Einordnung: Laut EU-Kommission lebten Ende 2019 rund 2,6 Millionen Flüchtlinge innerhalb der EU, das entspricht einem Anteil von 0,6 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Majidi sieht mehrere Bruchstellen in der europäischen Haltung: So hätten staatliche Asylgerichte, etwa in Frankreich, argumentiert, dass in Afghanistan kein Krieg herrsche und damit kein Fluchtgrund vorliege. Tatsächlich bezieht sich die UN-Menschenrechtscharta aber auf den Schutz vor Verfolgung, hier läge massive Evidenz für Afghanistan vor; etwa von Mädchen und Frauen, von Personen, die für die Regierung gearbeitet haben, oder von Angehörigen von Minderheiten wie den Hazara.

„Wir betrachten die Tendenz von Staaten mit Sorge, die zu verhindern versuchen, dass Flüchtlinge Zutritt zum Hoheitsgebiet und zum Asylverfahren haben.“

Christoph Pinter

Wiewohl Pakistan und Iran rund fünf Millionen afghanische Geflüchtete aufgenommen haben, sei die Verlagerung der Hilfsprogramme auf Nachbarländer, auf die sich europäische Länder berufen, problematisch. „Falls es Personen überhaupt schaffen, über die Grenze zu kommen, gibt es derzeit weder in Iran noch Pakistan einen RSD Process“, also ein Verfahren zur Bestimmung des Flüchtlingsstatus, wie es etwa das UNHCR durchführt. Statt dauerhafter Lösungen bedeute das vorübergehenden Schutz in Pufferzonen, womit afghanischen Flüchtlingen das Recht auf Asyl verwehrt würde, so Majidi. Einig sind sich die Expert_innen darüber, dass in dieser Situation vor allem Resettlement-Programme als Schutzinstrument bleiben. Ein interessantes, bereits bewährtes Modell bietet Kanada. Dort werden über ein Private Sponsorship of Refugees (PSR) qualifizierte Personen gezielt ins Land geholt und durch private Gruppierungen ein Jahr lang unterstützt und betreut. Das Programm wird vom Staat finanziell getragen.


HEIDRUN BOHNET
Ass.-Prof.in Dr.in Heidrun Bohnet ist Assistenzprofessorin am Department für Migration und Globalisierung an der Universität für Weiterbildung Krems. Siehe auch Porträt S. 46.

CHRISTOPH PINTER
Dr. Christoph Pinter ist Leiter von UNHCR in Österreich. Er studierte Jus/Rechtswissenschaften in Graz und hat sich bereits in seiner Diplom- und Doktorarbeit mit Asyl- und Flüchtlingsrecht befasst.

MARTIN WAGNER
Martin Wagner ist Senior Policy Advisor for Asylum am International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) mit Schwerpunkt auf das europäische und internationale Flüchtlingsrecht. Zuvor hat er für verschiedene NGOs gearbeitet und mehrere vergleichende Studien zum europäischen Asylsystem erstellt.

ALI AHMAD SAFI
Ali Ahmad Safi, MA, forscht am Department für Migration und Globalisierung an der Universität für Weiterbildung Krems, insbesondere über die afghanische Diaspora in Europa und verfasst derzeit seine Dissertation dazu. Er hat u. a. einen Beitrag über die Migration afghanischer Geflüchteter im Sammelband „Migration & Integration“ (2019) publiziert.

NASSIM MAJIDI
Dr.in Nassim Majidi forscht am African Centre for Migration and Society an der University of the Witwatersrand, Südafrika, und am Feinstein International Center an der Tufts University, USA. Sie ist Ko-Gründerin und Direktorin des Forschungszentrums Samuel Hall.

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