Die Territorialstaaten trachteten noch danach, Auswanderung zu kontrollieren. Die Nationalstaaten brachten das Recht, zu gehen, und erfanden die Staatsbürgerschaft, um zu regulieren, wer ankommen darf und wer nicht.

Von Johanna Müller

Lässt man den größten Teil der menschlichen Migrationsgeschichte – angefangen bei der von Afrika ausgehenden Besiedelung Asiens, Europas und des amerikanischen Kontinents – außer Acht, so kann die Regulation von Migration als eine europäische Erfindung gelten: Der Kontinent war immer durch Binnenmigration geprägt (und ist es noch), die Geschichte der modernen Migration begann mit der globalen Expansion Europas im späten 15. Jahrhundert und die europäischen Nationalstaaten haben eine Institution auf eine Weise etabliert, dass sie heute noch als ein Regler der Migrationskontrolle funktioniert: die Staatsbürgerschaft.

Der Zeitpunkt, ab dem die Staatsbürgerschaft zu diesem Regler werden konnte, lässt sich relativ genau datieren. „Im 19. Jahrhundert passierte ein signifikanter Umbruch, eine ‚exit revolution‘: Während bis dahin der merkantilistische Territorialstaat versuchte, Abwanderung zu regulieren und, wenn möglich, zu begrenzen, so wurde im Zuge der industriellen Revolution und der aufkommenden sozialen Frage nicht mehr die Abwanderung als Problem gesehen, sondern die Zuwanderung“, sagt Mathias Czaika, Professor für Migration und Integration der Universität für Weiterbildung Krems. Wie kam es zu diesem Paradigmenwechsel?

Der Fokus auf die Abwanderung ist typisch für das 16. und 17. Jahrhundert. Das Europa jener Zeit ist von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges geprägt, die soziale Ungleichheit ist groß. Die merkantilistische Wirtschaftspolitik der Herrscherhäuser strebt danach, möglichst viele wirtschaftlich aktive Untertanen zu haben, die das Land bestellen, Steuern zahlen und ihren Militärdienst leisten. Mit Ausnahme des britischen Empire sehen die Kolonialmächte die Neue Welt denn auch nicht als Siedlungsraum, sondern als Rohstofflieferanten. Wollte man auswandern, brauchte man eine Erlaubnis. Die spanische Krone etwa ließ nur jene gehen, die vor Ort von Nutzen sein konnten und politisch zuverlässig waren. Die neue Ökonomie in Übersee brauchte schließlich nur wenige Arbeitskräfte aus Europa – dafür wurden Menschen versklavt, allein 12 Millionen aus Afrika; der größte Akt von Gewaltmigration in der Menschheitsgeschichte.

Das 16. und 17. Jahrhundert kennt auch die gezielte An- und Umsiedlung. Etwa die Anwerbung protestantischer Hugenotten durch das Haus Brandenburg. Die Habsburgermonarchie siedelte deutschsprachige Untertanen in ihren ost- und südosteuropäischen Grenzregionen an. Diese Formen der Regulation von Migration sind typisch für den merkantilistischen Staat, dem Arbeitskraft wichtiger ist als Kapital. Es zeigen sich aber bereits die ersten Ansätze gezielter Migrationspolitik. Jochen Oltmer, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück: Moderne Staatlichkeit beginnt dort, wo Migration vor dem Hintergrund spezifischer politischer und gesellschaftlicher Ziele gelenkt wird.“

Die Konstruktion von Innen und Außen

Im 19. Jahrhundert passieren zwei entscheidende Veränderungen: Aus dem kommunalen Heimatrecht, das Bürger_innen von Städten und Gemeinden bestimmte Rechte gibt, zum Beispiel auf Armenfürsorge, wird ein nationales Staatsbürgerschaftsrecht. Die Kontrolle von Aus- und Zuwanderung sowie Niederlassung geht damit von den Kommunen auf den (National-)-Staat über. Zugleich steigt die Migration infolge von Industrialisierung, unter anderem des Agrarsektors, sowie der Urbanisierung stark an.

Indem diese beiden Entwicklungen zusammenkommen, ist das „Grundproblem“ von Staatsbürgerschaft und Migration, wie Politikwissenschafter Rainer Bauböck es nennt, in der Welt. Auf einmal sind die Einwohner_innen eines Staates nicht mehr notwendigerweise auch Staatsbürger_innen dieses Staates. Das bedeutet, dass in den Nationalstaaten immer ein Teil der Bevölkerung von Rechten, die an die Staatsbürgerschaft gekoppelt sind, ausgeschlossen ist. In Österreich ist dieses Grundproblem besonders deutlich: Zwanzig Prozent der österreichischen Bevölkerung haben keine inländische Staatsbürgerschaft und sind damit beispielsweise vom Wahlrecht ausgeschlossen.

Ius soli oder Ius sanguinis

Der steuernde Effekt ist kein Zufall, denn die Staatsangehörigkeit ist ein Instrument der Migrationspolitik. Die jungen Nationalstaaten entscheiden sich im 19. Jahrhundert – auch im Hinblick auf ihre Migrationsziele – für unterschiedliche Modelle. Gilt das Ius soli („Recht des Bodens“), ist der Ort der Geburt entscheidend, gilt das Ius sanguinis („Recht des Blutes“), wird die Staatsbürgerschaft von den Eltern auf die Kinder übertragen. Rainer Bauböck nennt ein Beispiel: „Lange galt Frankreich als Beispiel für starke Elemente des Ius soli in einer Willensnation. Das deutsche Modell war dagegen jenes einer Abstammungsnation mit starken Elementen des Ius sanguinis und einer eher ausgrenzenden Einwanderungspolitik.“ Unveränderbare Entwicklungspfade werden damit aber nicht festlegt, wie die Geschichte zeigt. Die meisten Staatsbürgerschaftsgesetze kombinieren heute beide Prinzipien. „Was Staaten unterscheidet, sind die jeweiligen Mischungsverhältnisse.“

„Indem man den Zugang zur Staatsbürgerschaft erschwert, will man auch Migrationsflüsse reduzieren oder stoppen.“

Rainer Bauböck

Die Verknüpfung von Staatsbürgerschaft und Migrationspolitik im 19. Jahrhundert ist auch den ökonomischen Umbrüchen geschuldet: Wo Fabriken entstehen und gigantische Infrastrukturen wie die Eisenbahn geschaffen werden, müssen Arbeitskräfte frei wandern können, um saisonale und temporäre Nachfrage zu bedienen. „Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und wirtschaftliche Gründe sind die maßgeblichen Faktoren, die die Massenmigration im 19. Jahrhundert antreiben“, so der Innsbrucker Zeithistoriker Dirk Rupnow. Viele Pass- und Visapflichten werden abgeschafft, aber mit Ausnahme von Frankreich möchten die meisten europäischen Staaten im 19. Jahrhundert Einwanderung, wenn möglich, nur auf Zeit zulassen. Das Ius sanguinis ist besonders geeignet, permanente Niederlassung zu erschweren, und tatsächlich, erläutert Oltmer, gelingt es den Staaten, die Aufenthaltsdauer zu beschränken.

Der Preis ist hoch

Die beiden Weltkriege und der Faschismus brachten zunächst Wellen der Gewaltmigration mit sich: Deportation und Zwangsarbeit, Flucht, Rückwanderungen, Massenausweisung und Vertreibungen, aber auch – bereits im Ersten Weltkrieg – die Deportation und Internierung „feindlicher Ausländer“. Die jeweils neuen Grenzen bedeuteten ihrerseits vielfach Massenmigration: Nach dem Ersten Weltkrieg migrierten zwei Millionen Menschen aus ehemaligen Territorien nach Deutschland, Österreich und Ungarn. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommen über 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen „Ostgebieten“ in die vier Besatzungszonen Deutschlands sowie nach Österreich, außerdem gibt es rund 11 Millionen Displaced Persons, die meisten davon ehemalige Zwangsarbeiter_innen.

An der Grenze zum Eisernen Vorhang gelegen und ein Nachfolgestaat des Habsburgerreiches, tut sich Österreich dennoch schwer, sich als Einwanderungsland zu definieren. „Statistisch betrachtet, ist Österreich schon seit Anfang der 1960er Jahre ein Einwanderungsland, aber das ist im Selbstverständnis des Landes oder in der politischen Debatte immer noch nicht so richtig angekommen“, sagt Rupnow.

„Moderne Staatlichkeit beginnt dort, wo Migration vor dem Hintergrund spezifischer politischer und gesellschaftlicher Ziele gelenkt wird.“

Jochen Oltmer

Stattdessen gewinnt seit den 1990er Jahren das Thema Staatsbürgerschaft politisches Momentum und wird von rechtsgerichteten politischen Parteien mit dem Thema Identität verknüpft. Der Zugang zur Staatsbürgerschaft wird in Österreich exklusiver, auch aus migrationspolitischen Erwägungen. Staatsbürger_innen unterliegen keiner Migrationskontrolle, können nicht abgeschoben werden, jederzeit wieder einreisen und haben weitergehende Rechte auf Familiennachzug als Drittstaatsangehörige. „Indem man den Zugang zur Staatsbürgerschaft erschwert, will man auch Migrationsflüsse reduzieren oder stoppen“, so Bauböck.

Der Preis der Instrumentalisierung der Staatsbürgerschaft für die Einwandernden und für die Einwanderungsländer ist hoch. Er besteht in einer Gesellschaft der Ungleichheit. „Eingewanderten wird über Jahrzehnte die demokratische Repräsentation verweigert“, sagt Oltmer. „Man gibt zu verstehen: ‚Ihr gehört nicht zu uns‘.“


MATHIAS CZAIKA
Univ.-Prof. Dr. Mathias Czaika ist Wirtschaftswissenschafter und Politologie. Er leitet das Department für Migration und Globalisierung an der Universität für Weiterbildung Krems.

RAINER BAUBÖCK
Prof. Dr. Rainer Bauböck ist Politologe und Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er forscht zu den Themen Staatsbürgerschaften in Demokratien, europäische Integration, Migration, Nationalismen und Minderheitenrecht.

DIRK RUPNOW
Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow ist Zeithistoriker, Professor für Geschichte und Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck. Er forscht und lehrt unter anderem zur österreichischen, deutschen und europäischen Zeit- und Migrationsgeschichte.

JOCHEN OLTMER
Apl. Prof. Dr. Jochen Oltmer ist Historiker und außerplanmäßiger Professor für Neueste Geschichte sowie Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.

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