Megatrends wie der Klimawandel oder die Digitalisierung verändern die Gesellschaft. Das Recht muss nachziehen und entsprechend aktualisiert werden. Die EU stellt sich dieser Herausforderung.

Von Valentine Auer

Die vier Grundfreiheiten der Europäischen Union wurden 1957 definiert. Von aktuellen Herausforderungen wie Klimawandel oder Digitalisierung war damals noch keine Rede. Mehr als 50 Jahre später nahm die EU die Grundrechte-Charta in das Primärrecht, als das ranghöchste Recht der EU, auf. Auch damals, 2009, sah das Internet anders aus als heute, der Kampf gegen den Klimawandel war ein politisches Minderheitenthema.

Dementsprechend werden Forderungen nach einem Update dieses Primärrechts laut. Doch wie notwendig ist ein solches tatsächlich? Wie versucht die Europäische Union, ihr Rechtssystem zukunftsfit zu machen, und wo gibt es Nachholbedarf?

In einem sind sich viele Experten einig: Die Grundfreiheiten der EU – der freie Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – sind trotz ihres Alters zeitlos. Diese Meinung teilt auch Europarechtsexperte Siegfried Fina von der Donau-Universität Krems: „Weit bevor es Digitalisierung gab oder Nachhaltigkeit ein öffentliches Thema war, wurden die vier Grundfreiheiten eingeführt. Als grundlegender Ordnungsrahmen der EU passen sie dennoch nach wie vor. Auch, weil sie seit jeher vom Europäischen Gerichtshof im Kontext neu auftretender Herausforderungen angepasst werden.“

Hinsichtlich einer möglichen Erweiterung der Grundrechte-Charta, besteht jedoch Uneinigkeit. Fina verweist auf lauter werdende Stimmen, die die Grundrechte-Charta ergänzen wollen, um den Herausforderungen der Digitalisierung und des Klimawandels gerecht zu werden.

Ein prominentes Beispiel dafür liest sich folgendermaßen: „Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung.“ Oder: „Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.“ Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach fordert unter anderem diese Artikel in die Grundrechte-Charta aufzunehmen. Mit dieser Forderung ist von Schirach nicht alleine: Mehr als 200.000 Menschen unterzeichneten bereits seine Kampagne für neue Grundrechte in Europa.

Einen spannenden aber „provokativ formulierten“ Katalog, nennt Martin Selmayr von Schirachs Forderungen. „Das Recht, Komnachhaltig zu wirtschaften, oder das Recht auf digitale Bildung sind in ihren Grundsätzen wünschenswert. Ich meine jedoch, dass man sie bereits aus den heutigen Grundrechten herauslesen kann, wenn sie nicht schon drinnen stehen.“ Selmayr ist nicht nur Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich, sondern auch Jurist. Er verweist auf Artikel 14, der das Recht auf Bildung und Zugang zu u. a. Weiterbildung gewährt und in der digitalen Welt Anwendung finden kann, oder auf Artikel 37, der eine nachhaltige Entwicklung sicherstellen will. „Unsere Charta ist in vielen Punkten zukunftsoffen formuliert“, so Selmayr.

Sekundärrecht zukunftsfit machen

Ähnlich sieht das Clara Rauchegger, Leiterin des Instituts für Theorie und Zukunft des Rechts an der Universität Innsbruck: „Neue Grundrechte braucht es nicht. Die Charta ist ohnehin moderner und umfassender als die meisten Verfassungen der Mitgliedsstaaten. Stattdessen müssen Verordnungen und Richtlinien, also das Sekundärrecht der EU, immer wieder aktualisiert werden.“

„Weit vor Digitalisierung oder Nachhaltigkeit wurden die vier Grundfreiheiten eingeführt. Als grundlegender Ordnungsrahmen der EU passen sie dennoch nach wie vor.“

Siegfried Fina

Als Beispiel nennt Rauchegger die über 20 Jahre alte Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr. Die damalige Situation wird dem eingestaubten Namen dieser Richtlinie gerecht: 2000 gab es kein Facebook und Amazon war nicht mehr als ein Buchhändler. Mittlerweile dominieren einige wenige IT-Konzerne die digitale Welt und der Online-Handel boomt seit Jahren. Ein Nachschärfen ist dringend notwendig. Das erkannte auch die Europäische Kommission und schlug Ende 2020 eine Verordnung über digitale Dienste („Digital Services Act“) vor. Die Annahme dieses Vorschlags vonseiten des Europäischen Parlaments und der Mitgliedsstaaten steht noch aus.

Es ist ein erster Schritt in eine notwendige Richtung, die derzeit auch in anderen Bereichen beobachtbar ist: Dazu zählt der weltweit erste Rechtsrahmen für künstliche Intelligenz, den die Europäische Kommission im April 2021 vorgelegt hat. Oder die Schaffung einer europaweiten digitalen ID, die bürokratische Hürden für alle Unions-Bürgerinnen und -Bürger erleichtern soll.

Bereits seit Dezember 2019 wird außerdem an einem detaillierten Green-Deal-Aktionsplan gearbeitet, der ein verbindliches Europäisches Klimagesetz beinhaltet, um die EU bis 2050 klimaneutral zu machen. Für Fina ein Beispiel dafür, dass Maßnahmen wie „die Förderung von Biodiversität und die Bekämpfung von Umweltverschmutzung auf Grundlage des Primärrechts, also der bisherigen Europäischen Verträge, umgesetzt werden können“.

Rechtsdurchsetzung stärken

Der Digitalisierungs- und der Nachhaltigkeitsbereich werden derzeit noch stark durch sanktionsfreie Instrumente geregelt. Durch die neuen Verordnungen ändert sich das. Bei klimafeindlichem Verhalten oder der Entwicklung einer diskriminierenden KI sind Geldbußen vorgesehen. Die Verordnungen werden zudem in allen Mitgliedsstaaten sofort rechtswirksam.

Zumindest theoretisch. Ein Blick auf die 2018 in Kraft getretene Datenschutzgrundverordnung zeigt, dass es an der Umsetzung mangelt: 2019 untersuchte das deutsche Justizministerium 35 marktrelevante Online-Dienste, 19 von ihnen fielen beim Umgang mit sensiblen Daten durch. Das Datenschutz-Unternehmen heyData erstellte zudem ein aktuelles Datenschutz-Ranking. Ein Ergebnis: Die Durchsetzung und Kontrolle entsprechender Gesetze schwankt in den Mitgliedsstaaten enorm.

Doch laut Martin Selmayr gibt es noch eine weitere Möglichkeit, um die Rechtsdurchsetzung zu stärken: Die Kürzung finanzieller Mittel, die noch heuer möglich werden soll. „Das ist das schärfste Schwert, denn viele Mitgliedsstaaten sind von den EU-Finanzmitteln abhängig. Europäische Solidarität muss jedoch an die Wahrung von Recht und Werten gekoppelt sein“, sagt Selmayr.

EU im Krisenmodus

Aufbauend auf den Erfahrungen der globalen COVID-19-Pandemie will Selmayr noch einen Schritt weitergehen und eine Art Krisenmechanismus entwickeln, der eine schnelle und wirksame Handlungsfähigkeit der EU ermöglicht. Sein Vorschlag: In Krisenzeiten soll das Prinzip der Einstimmigkeit durch eine Entscheidung der Europäischen Kommission oder eine qualifizierte Mehrheit ersetzt werden. „Die EU ist ein unvollkommenes Gebilde. Sie ist kein Staat, aber auch keine zwischenstaatliche Organisation. Gerade in Krisenzeiten führt dies zu einer Diskrepanz zwischen Erwartungen und Ergebnissen“, so Selmayr weiter.

Um so einen Krisenmodus umzusetzen, sei das Vertrauen der Mitgliedsstaaten notwendig. Dieses soll nach der Krise gemeinsam geschaffen werden, unter anderem im Rahmen der Konferenz über die Zukunft Europas – einer Konferenz, die auf der Beteiligung der Bürger aufbaut. Einerseits, indem individuelle Gespräche geführt werden, andererseits durch Meinungsumfragen. Erste Ergebnisse für Österreich zeigen, dass sich die Mehrheit der Befragten (66 %) gegen das Prinzip der Einstimmigkeit ausspricht und zwar nicht nur im Krisenmodus. Mit Blick auf die Pandemie wünscht sich zudem mehr als die Hälfte, dass die EU mehr Zuständigkeiten erhält, zumindest in puncto Gesundheitspolitik.

Werden die erhobenen Stimmen der Unions-Bürgerinnen und -Bürger im Rahmen der Konferenz tatsächlich gehört, würden diese wichtige Rechtsfragen beeinflussen – und genau darum geht es, wie Siegfried Fina abschließend festhält: „Jede Rechtsordnung muss laufend angepasst werden. Das Recht stellt immer eine Reaktion auf Fragestellungen dar, die die Gesellschaft beschäftigen und herausfordern. Der Gesetzgeber und letztlich die Zivilgesellschaft müssen diese Fragestellungen beantworten, um so das Rechtssystem einem ständigen Update zu unterziehen.“


SIEGFRIED FINA
ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Siegfried Fina ist Jean-Monnet-Professor für Europarecht an der Donau-Universität Krems und an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Europa-, Wirtschafts- und Technologierecht.

CLARA RAUCHEGGER
Mag. Mag. Dr. Clara Rauchegger ist Assistenzprofessorin an der Universität Innsbruck und Leiterin des Instituts für Theorie und Zukunft des Rechts. Sie forscht zum Europarecht, zum Vergleichenden Verfassungsrecht und zum Recht der Digitalisierung.

MARTIN SELMAYR
Prof. Dr. Martin Selmayr leitet die Vertretung der EU-Kommission in Österreich. Zuvor war er Generalsekretär der Europäischen Kommission und Kabinettchef von Jean-Claude Juncker. Er studierte Rechtswissenschaften, u.a. an der Universitäten Genf und am King’s College London und ist Lehrbeauftragter an der Donau-Universität Krems.

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