Töne in den Trümmern: Die Orchesterakademie Accademia Vicino di Accumoli bringt durch die Musik auch Hoffnung, Freude und Gemeinschaft zurück in die 2016 vom Erdbeben zerstörte italienische Stadt Accumoli.

Von Julia Rumplmayr

 

Die italienische Provinz Rieti (Latium) wurde im August 2016 von einem schweren Erdbeben heimgesucht. Viele kleine Städte wurden zerstört, darunter das idyllisch auf Hügeln gelegene Accumoli. Die Kleinstadt wurde fast zur Gänze zerstört, nur ein Haus blieb stehen, der Rest brach in sich zusammen. Elf Menschen starben bei dem Erdbeben.

„Vor dem Erdbeben war Accumoli ein kleines ruhiges Städtchen, mit historischen Häusern und wunderschöner Landschaft. Es war ein Ort, an dem es sich gut leben ließ“, beschreibt die Bürgermeisterin der Gemeinde, Franca D’Angeli, ihre Stadt. Sie sitzt in ihrem Büro im Rathaus, das sich seit den Erdbeben im unteren Teil der Stadt befindet, auch die Polizei, die Post und Einkaufsmöglichkeiten sind an den Stadtrand übersiedelt. Der obere Teil der Stadt ist „rote Zone“, in der nichts mehr an früher erinnert. Einige der Einwohner_innen, deren Häuser 2016 evakuiert wurden, leben heute hier in einer Containersiedlung. Nicht nur ihre Häuser sind nicht mehr da, ihr ganzer früherer Lebensraum – die Piazza, die Bar, der Supermarkt, das Straßenleben – ist verschwunden.

„Mit 2016 hat eine sehr schwierige Zeit begonnen. In Accumoli leben viele ältere Menschen, sie haben ihr Leben hier aufgebaut. Die Menschen wollen ihre Häuser zurück, aber davon sind wir noch weit entfernt“, erklärt Bürgermeisterin D’Angeli. Ihr Ziel ist ein vollumfänglicher Wiederaufbau, der einerseits den Bewohner_innen wieder ein Zuhause geben und andererseits das Städtchen für Neuansiedlungen attraktiv machen soll. Denn schon vor 2016 war die Abwanderung junger Menschen ein Problem für das ländlich gelegene Städtchen.

Wozu Mozart und Mendelssohn?

Seit der Erdbebenkatastrophe 2016 beschäftigt sich die Universität für Weiterbildung Krems unter der Projektleitung von Prof. Christian Hanus gemeinsam mit sieben anderen europäischen Universitäten und Forschungsinstitutionen mit Fragen zum Wiederaufbau der zerstörten Städte. In Accumoli wurde eine „Schule des Wiederaufbaus“ eingerichtet, die das Zentrum dieser Planungen ist und von Wissenschaftler_innen, Politik und lokalen Verantwortlichen genützt wird.

Das kulturelle Herz der Wiederaufbau­-Projekte ist die Orchesterakademie Accademia Vicino di Accumoli, die im Sommer 2021 erstmals stattfand. „Es soll hier in Accumoli nicht nur Container geben, sondern auch Dinge, die eine urbane Kulturübung zumindest simulieren“, erklärt Johannes Wildner. Der Dirigent und ehemalige Wiener Phil­harmoniker ist künstlerischer Leiter der Accademia Vicino di Accumoli: „Mein erster Gedanke, als ich im Frühsommer 2021 das Projekt übernommen habe, war: Hier fehlt so vieles, Arbeit, Häuser, Essen, wozu brau­chen die Menschen Mozart?“, berichtet er über seine anfängliche Skepsis: „Was wir allerdings in Accumoli erlebt haben, war einfach unglaublich und beeindruckend für uns alle.“

Charlotte Hartung von Hartungen

„Viele unserer Projekte passieren im Stillen, aber die Accademia findet vor Ort statt und ist für die Menschen hier sichtbar und hörbar. Dadurch wird die Gemeinschaft vitalisiert.“

Charlotte Hartung von Hartungen

42 junge Musiker aus 17 verschiedenen Ländern kamen 2021 nach Accumoli und erhielten bei der dreiwöchigen Akademie Orchester­ und Kammermusiktraining, Vorbereitung für Auditions und Einzelunterricht bei renommierten Dozent_innen. Dazu gaben sie Konzerte in Accumoli und den Gemeinden Ascoli Piceno und Norcia. „Die Musiker und Musikerinnen sind in diesen Wochen zu einer verschworenen Gemein­schaft geworden. Wir haben hier Musik unter schwierigen Bedingungen gemacht – mit langen Anfahrten, täglichen Covid­-Tests, in provisorischen Gebäuden. Letztlich war es eine fast klösterliche Atmosphäre, die die Kulturarbeit auf das Ursprüngliche reduziert hat“, beschreibt Wildner. „Es war egal, ob man eine teure oder eine billige Geige hatte, ob das Hemd schmutzig oder gebü­gelt war – die Musik war hier von allen Schranken befreit.“

Ein Modell für die Welt

Die Bewohner_innen von Accumoli haben das Projekt von Anfang an mit Neugier verfolgt. Schon bei den ersten Proben versammelte sich eine Schar von Menschen hinter dem Baustellenzaun. „Die Menschen haben drei Stunden lang zugehört und gefragt, ob sie am nächsten Tag wieder kommen können.“ Die Musiker_innen nahmen Kontakt mit der Bevölkerung auf, man feierte auf der improvisierten Piazza mit der Musikkapelle des Ortes, Menschen aus den Nachbardörfern kamen zum Mitmusizieren. „Das waren regelrechte Miniatur-­Flashmobs, die Kultur breitete sich rasant aus“, schwärmt Wildner. Beim großen Abschlusskonzert zum Jahrestag des Erdbebens am 24. August, der „Nacht der Erinnerung“, gedachte man der beim Erdbeben Verstorbenen. „Hier sprach die Musik, wo jedes Wort zu viel gewesen wäre“, beschreibt Wildner. „Bei einem Projekt wie diesem werden Menschen mit Kultur konfrontiert, ohne es vielleicht zu wollen, es verbinden sich gegensätzliche Werte. Hier in Accumoli erfinden wir in einem kleinen Sektor ein Modell für die ganze Welt“, resümiert Wildner. „Wir sind mit viel Neugier für die zweite Auflage im Sommer 2022 ausgestattet.“

Auch Bürgermeisterin D’Angeli erzählt von einer neuen Einheit, die sie im vergangenen Sommer wahrgenommen hat. „Wir haben im Jahr 2016 unser Lächeln verloren, die Musik hat es uns wieder zurückge­bracht“, beschreibt sie. Der Wiederaufbau der Häuser sei wichtig und dringend für die Bevölkerung, noch wichtiger sei aber der Wiederaufbau der Gemeinschaft. „Denn was nützen uns Häuser, wenn wir die Gemeinschaft nicht mehr haben?“, meint sie. „Im vergangenen Sommer waren unsere Probleme für einige Wochen vergessen. Die Musik hat uns Hoffnung zurückgebracht, wir haben uns durch die jungen Musiker richtig international und sehr, sehr stolz gefühlt. Ich möchte es wirklich nicht romantisieren, aber es war ein regelrechtes Freudenfest, die Menschen waren wie neugeboren.“

Johannes Wildner

„Hier sprach die Musik, wo jedes Wort zu viel gewesen wäre.“

Johannes Wildner

Neue Wege für Accumoli

Charlotte Hartung von Hartungen kommt gerade von einem Besuch in Accumoli zurück. Die gebürtige Südtirolerin betreut das Projekt an der Universität für Weiterbildung Krems seit Beginn des Jahres und bereitet gerade die zweite Auflage der Orchesterakademie vor. Ihr erster Besuch im Erdbebengebiet war bewegend für sie: „Es ist unheimlich, hier zu stehen, wo nichts mehr von der früheren Stadt ist. Auch wenn man vorbereitet wird, kann man es sich in dieser Dimension kaum vorstellen.“ Accumoli sei eine Fallstudie, erklärt Hartung von Hartungen, die Projekte und ihre Forschungsergebnisse können auch auf andere von Naturkatastrophen oder durch Menschen zerstörte Gegenden angewendet werden.

Hartung von Hartungen begleitet neben der Akademie auch die anderen Uni­-Projekte zum italienischen Ort, wie das jüngst angelaufene ComPaRe­-Projekt und das Landschaftsprojekt Accumoli 2030 für nachhaltige Landwirtschaft, das ebenso wie die Akademie gemeinschaftsfördernden Charakter hat. Darin ist auch Renzo Colucci, Präsident des Vereins Radici Accumolesi, involviert. Die Probleme der Landwirte wie Abwanderung der Jungen haben sich durch das Erdbeben noch verschärft, allerdings „ist die Landwirtschaft der einzige Wirtschaftssektor, der lebendig geblieben ist“, erklärt Colucci, der in der Region seine Pension verbringt. „Die Landwirtschaft hat eine Zukunft, wir haben gute Produkte, die auch für den Tourismus interessant sein können.“ Das Bestreben seines Projekts ist, die Landwirte weiterzubilden, sie anzuregen, aus ihren Rohstoffen wie der Ziegenwolle attraktive Produkte herzustellen und Naturjuwele der Region wie den Lago Secco bekannter zu machen. „Wir entwickeln neue Wanderwege, mit dem Ziel, die zahlreichen Höfe zu Fuß und per Rad erreichbar zu machen.“

Im heurigen Sommer wird wieder Musik durch das zerstörte Accumoli klingen. „Ich bin sehr gespannt auf die zweite Auflage der Orchesterakademie“, sagt Charlotte Hartung von Hartungen. „Viele unserer Projekte passieren im Stillen, aber die Accademia findet vor Ort statt und ist für die Menschen hier sichtbar und hörbar. Dadurch wird die Gemeinschaft vitalisiert und auch der Ort für andere bekannter. Wenn hier oben Musik gemacht wird, klingt das weit über die Hügel. Das ist Leben!“


CHARLOTTE HARTUNG VON HARTUNGEN
Charlotte Hartung von Hartungen ist Mitarbeiterin am Zentrum für Baukulturelles Erbe der Universität für Weiterbildung Krems. Sie unterstützt die Wiederaufbauschule Accumoli sowie das Projekt Orchesterakademie Accademia Vicino di Accumoli.

FRANCA D’ANGELI
Franca D’Angeli ist Bürgermeisterin der Gemeinde Accumoli in Italien, Provinz Rieti (Latium). Sie wurde 2019 zur Bürgermeisterin des 2016 bei einem Erdbeben fast vollständig zerstörten Ortes Accumoli gewählt.

JOHANNES WILDNER
Univ.-Prof. Johannes Wildner ist Universitätsprofessor für Dirigieren an der mdw in Wien. 2021 übernahm er die künstlerische Leitung der Accademia Vicino. Er ist Intendant des Opern festivals Oper Burg Gars und Chefdirigent des dänischen Sønderjyllands Symphony Orchestra.

RENZO COLUCCI
Renzo Colucci ist Präsident des Vereins Radici Accumolesi in Accumoli. Im Rahmen des Projekts Accumoli 2030 will Colucci die Landwirtschaft in der Region wiederbeleben.

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