Das Coronavirus und der Klimanotfall führen zu einem erneuten Interesse an den Potenzialen des Online-Lernens. Es ist jedoch wichtig, dass diese Begeisterung für die Erweiterung der Lernumgebung durch Online-Lernen auch ein qualitativ hochwertiges Lernen für Studierende gewährleistet. Anfang Juni 2020 wurde in Deutschland in einem offenen Brief zur Verteidigung der Präsenzlehre aufgerufen. Darin warnen die bislang etwa 3.500 Unterzeichner und Unterzeichnerinnen, dass dieser „digitale Sprung“ wichtige Prinzipien und Praxen, die zur Hochschulbildung gehören, vernachlässigt. In der Zielsetzung haben die Kolleginnen und Kollegen recht: Es darf am Ende bei jedweder Reform nicht um Technik und Instrumente, daher aber auch nicht um die Präsenzlehre per se gehen, sondern vielmehr um die Ziele der Hochschulbildung.

Natürlich steht bei der Reaktion der Hochschulen auf die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus zunächst die Notsicherung im Vordergrund und da werden die Vorteile der digitalisierten Erweiterung des Lernraums nicht sichtbar. Es wäre großartig, würden wir die aktuelle Situation dafür  nützen, die Digitalisierung des Lernens als positive Chance aufzugreifen, um einige der Bedürfnisse von Studierenden zu erfüllen, die in den letzten 20 Jahren oder länger Herausforderungen für die Hochschulbildung geblieben sind, allen voran bei den älteren Studienanfängern und Studienanfängerinnen aus bildungsfernen Schichten, die organisationale Betreuung und flexible Angebotsstrukturen brauchen.

„Wie wäre es damit, die Hochschulbildung selbst neu zu überdenken? Uns allen wird aber nicht geholfen, wenn wir hier (ironischerweise) ein 1-0-Schema zwischen Präsenzuniversität und Online-Universität bedienen.“

Dominic Orr

Wenn wir es jedoch bei den gegenwärtig rasch erarbeiteten Lösungen zur Unterrichtssicherung belassen, kann dies den Lernerfolg beeinträchtigen und den künftigen Einsatz von technologieunterstützten Maßnahmen zur Bereitstellung besserer Lernmöglichkeiten für alle behindern. Vor allem schlechtes Design hat dazu geführt, dass Online-Lernen manchmal als zweite Klasse angesehen wird.

Jede qualitativ hochwertige Lernumgebung hängt davon ab, Verhaltensweisen zu fördern, zu ermöglichen und zu unterstützen, von denen erwartet wird, dass sie den größten Einfluss auf das Lernen haben. Diese Lernumgebung besteht aus Inhalten, Lehr- und Lernunterstützungspraktiken, Bewertungs- und Anerkennungspraktiken und Technologie – all dies zusammen bildet die gesamte Lernerfahrung. Die Tatsache, dass alle Hochschulen gleichzeitig von den Umständen im Rahmen der Coronavirus- Bekämpfung betroffen sind, bietet auch definitiv die Möglichkeit für sie, in ihren strategischen Reaktionen voneinander zu lernen.

Wie wäre es damit, die Hochschulbildung selbst neu zu überdenken und zu sehen, wie wir eine neue Hochschule schaffen könnten, die unseren Gesellschaften besser dient? Uns allen wird aber nicht geholfen, wenn wir hier (ironischerweise) ein 1-0-Schema zwischen Präsenzuniversität und Online-Universität bedienen. Lassen Sie uns die Hochschulbildung besser machen und nicht einzelne Techniken verteufeln oder verteidigen.


DOMINIC ORR

Dr. Dominic Orr ist Adjunct Professor für Bildungsmanagement an der Universität Nova Gorica, Slowenien und arbeitet als Research Lead bei Kiron Open Higher Education in Berlin, wo er sich mit dem Kiron-Team mit der Verwirklichung einer  Bildungsplattform beschäftigt, die Lernenden neue Wege durch die Hochschulbildung ermöglicht. Darüber hinaus arbeitet er als externer Berater für die OECD, die UNESCO, die Weltbank und GIZ.

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