Videokonferenzen mit Zoom, Jitsi, Teams & Co machen müde, und seit Corona wissen wir: Es gibt wenig, was man dagegen tun kann. Was bedeutet diese Erkenntnis für die universitäre Online-Lehre?

Von Cathren Landsgesell

Normalerweise hat Stefan Oppl eine Standard-Bitte an seine Studierenden: „Bitte schauen Sie deutlich verwirrt, damit ich erkennen kann, wenn ich etwas besser erklären soll“, sagt er zu ihnen. Was in den Vorlesungen an der Donau-Universität Krems, wo er das Department für Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien leitet, gut funktioniert, versagt im virtuellen Setting der Videokonferenz: „Selbst wenn alle die Kamera einschalten würden, was sie aus technischen Gründen nicht tun, würde man in diesem Setting nicht bemerken, ob die Studierenden nicht gerade etwas anderes machen“, sagt Oppl. „Es kann gut sein, dass sie nebenbei ihre E-Mails checken oder in einem anderen Chat sind. Das ist anstrengend.“

Gestreamte Vorlesungen, Besprechungen und Seminare machen müde; wesentlich müder als ein direktes Gespräch oder eine Vorlesung in einem Hörsaal: Diese Erfahrung haben viele Lehrende in den letzten Wochen machen müssen. Auch an Profis wie Stefan Oppl gehen die Anstrengungen nicht spurlos vorbei. Doch warum hat Live-Streaming diesen Effekt? Und, wichtiger noch, was kann man dagegen tun?

Müdigkeitsfaktor I: fehlende Interaktion

Nicht zu wissen, was das Gegenüber gerade fühlt, denkt oder macht, ist ein wesentlicher Ermüdungsfaktor. Wie psychologische Forschungen unter anderem an der Universitätsklinik Zürich gezeigt haben, sind Menschen darauf angewiesen, die Mimik ihres Gegenübers nachzuahmen, um Gefühle richtig zu deuten. Subtilste Bewegungen unserer Gesichtsmuskulatur lassen uns erst verstehen, was wir sehen.

Dieser Erkenntnisprozess wird durch technische Artefakte und schlechte Datenübertragung behindert. Das Wort wird von der Mimik getrennt, Gesichter frieren ein, Stimmen stottern zuweilen und Verbindungen brechen ab. Was als Interaktion gedacht war, wird zum Monolog. „Es ist im Endeffekt einfach so, dass ich wesentlich mehr spreche, und die Studierenden weniger involviert sind“, resümiert Oppl.

Zumindest gegen den technisch bedingten Anteil an der Ermüdung gibt es ein Mittel: bessere Technik. Martin Ebner leitet an der TU Graz den interdisziplinären Bereich „Interaktive Lehr- und Lerntechnologien“, den er vor fünfzehn Jahren auf zubauen begann. „Wir sind technisch sehr gut aufgestellt und haben als eine der wenigen Universitäten in Österreich die Lehrveranstaltungen gestreamt“, berichtet Ebner von den jüngsten Erfahrungen der TU Graz. Die Pandemie ist eine Zäsur für sein  Gebiet: „Plötzlich ist man systemrelevant.“ Online- Lehre, so Ebner, steht und fällt mit der technischen Ausstattung: „Angefangen vom Breitbandzugang bis zu geschultem Personal und der technischen Ausstattung braucht Online-Lehre entsprechende Ressourcen.“ Die Ermüdungseffekte aufgrund fehlender Interaktion können nur gemildert werden, wenn nicht die ganze Last auf den Lehrenden selbst liegt. „Sobald die Technik nicht mitspielt, wird es per se anstrengend.“

„Studierende müssen Lehr-Videos nutzen können wie ein Skriptum.“

Martin Ebner

Müdigkeitsfaktor II: fehlende Abwechslung

Eine Videokonferenz, die zur Einwegkommunikation wird, ist ein Perpetuum mobile der fortschreitenden Ermüdung. „Menschen brauchen Interaktion“, sagt Tanja Jadin. Die Medien-Psychologin lehrt und forscht an der Fachhochschule Oberösterreich unter anderem zu der Frage, wie kollaboratives Lernen mit Computerunterstützung funktionieren kann. Sie sei „kein Fan von reinem Online-Lernen“, meint sie. „Bildschirmarbeit, das wissen wir aus der Motivationsforschung, macht prinzipiell müde“, erläutert sie. „Unsere Augen können nicht umherschweifen, wir müssen den Bildschirm fokussieren, um den Inhalten folgen zu können.“ Auf diese Weise entsteht eine reizarme Lernumgebung. Jadin empfiehlt Lehren den in Online-Settings, nicht nur wesentlich mehr Pausen zu machen, als sie es üblicherweise tun würden, sondern auch, kontinuierlich Feedback einzuholen.

Bedenkenswert ist auch: Konstellationen wie ein Lockdown verstärkten noch das Gefühl der Isolation bei allen Beteiligten, bremsen die Motivation und verstärken schließlich die Müdigkeit. „Wir sind dann viel zu lang mit dem Bildschirm allein“, so Jadin.

Müdigkeitsfaktor III:  fehlende Spontaneität

In einer gestreamten Vorlesung oder einem gestreamten Seminar kann nur passieren, was zuvor geplant wurde – ein Umstand, der seinerseits ein weiteres Scherflein zur Müdigkeit beiträgt. „Es gibt nur den Austausch, den man explizit zu einem definierten Thema vereinbart hat“, sagt Oppl. „Selbst Breakoutsessions sind geplant: Als Lehrender muss ich mich darum kümmern, dass es zu diesen ‚spontanen‘ Unterbrechungen kommt. In Videokonferenz-Settings gibt es keine echte Spontaneität.“ Vorhersagbarkeit ist tendenziell langweilig und ergo ermüdend.

Findet die Universität noch dazu ausschließlich online statt, fehlt auch noch das berühmte Gespräch am Gang, in der Mensa oder bei der Kaffeemaschine, bei dem ungeplant und unvorhergesehen von einem Thema zum nächsten gewechselt wird. Für Online-Settings gibt es keine etablierten sozialen Regeln, die das ermöglichen können. „Es ist insgesamt ein extrem statisches Gefüge“, sagt Jadin. „Das unterstützende Miteinander entsteht vor allem in den Pausen.“ Fallen die Pausen weg, befördert das die Ermüdung. Als Gegenmittel hilft: online informelles Zusammensein ermöglichen.

„Menschen brauchen Interaktion. Ich bin kein Fan von reinem Online-Lernen.“

Tanja Jadin

Aus der Wirtschaftsinformatik kommend, hat Stefan Oppl den Weg zum Distanzlernen über Lehr-Videos gefunden, die er selbst im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in den Niederlanden gemacht hat. Lehr-Videos scheinen interessanterweise ganz anders zu wirken als Videokonferenzen. Oppls Untersuchungen über die Rezeption von Lehr-Videos zeigen, dass diese den Studierenden wesentlich mehr Handlungsspielraum lassen – das hält ihre Aufmerksamkeit aufrecht. „Mithilfe von Methoden der Learning Analytics können wir zeigen, welche Stellen in einem Lehr-Video von den Studierenden gezielt aufgesucht werden und wie sie das Video generell nutzen“, berichtet Oppl.

Es stellt sich heraus: Lehr-Videos werden selten in einem Satz von vorn bis hinten angesehen. Lernende springen vielmehr im Video hin und her, sehen sich bestimmte Sequenzen wiederholt an und setzen eigene Schwerpunkte. Je näher eine Prüfung rückt, desto selektiver gehen die Studierenden vor. „Wiederholungen, interaktive Marker und Fragen machen ein gutes Lehr-Video aus“, sagt denn auch Martin Ebner. Seine Erfahrung: „Studierende müssen Videos nutzen können wie ein Skriptum, in dem sie sich etwas anstreichen können."

Müdigkeitsfaktor IV: fehlende Unterstützung

Mit den sozialen Kontakten gehen in der – reinen – Online-Lehre nicht nur Autonomie und, Spontaneität, sondern auch gegenseitige Unterstützung verloren – und damit schwinden Interesse und Motivation. „Man geht nicht gemeinsam essen, es gibt keine informellen fachlichen Gespräche“, sagt Jadin. Und ergänzt: „Das soziale Leben, das offline stattfindet, kann man online nicht kompensieren.“

Die meist scheiternden Kompensationsversuche sind anstrengend: Das Lernen auf Distanz verlangt Kompetenzen von den Lernenden, die sonst an Lehrende oder an Mitstudierende delegiert werden können. Selbstgesteuertes Lernen heißt im Wesentlichen, sich selbst anzuleiten, zu regulieren, sich dabei zugleich selbst zu überwachen und vor allem, sich permanent selbst zu motivieren. „Manchen gelingt das besser als anderen“, sagt Jadin.

Der akute Corona-Ausnahmezustand ist nun mehr oder weniger beendet. Dass alles wieder so werden wird wie zuvor, glaubt Martin Ebner nicht: „Wir werden nicht mehr in den Nullzustand zurückkehren.“ Jadin sieht das ähnlich. „Wir wissen aus Umfragen, dass unsere Studierenden Präsenz- Lehre sehr schätzen“, erzählt sie. Sie geht davon aus, dass sich Modelle des Blended Learning, bei dem sich Präsenzphasen und Online-Phasen abwechseln, durchsetzen werden: „Online-Lehre wird dann gefragt sein, wenn es um die Vermittlung von Fakten geht“, sagt sie. „Sie stößt an Grenzen, wenn handlungsbasiertes Lernen und Arbeiten gefragt ist.“


MARTIN EBNER
Priv.-Doz. DI Dr. Martin Ebner leitet die Abteilung für Lehr- und Lerntechnologien an der Technischen Universität Graz. Der Einsatz von digitalen Technologien in der universitären Lehre ist sein Forschungsschwerpunkt; unter anderem widmet er sich der Frage, wie freie Bildungsressourcen helfen können, die Bildung der Gesellschaft voranzutreiben.

TANJA JADIN
FH-Prof. Mag. Dr. Tanja Jadin ist Psychologin und seit 2011 Professorin für E-Learning, Lernen mit neuen Medien an der Fachhochschule Oberösterreich, wo sie den Masterstudiengang „Kommunikation, Wissen, Medien“ leitet. Sie erforscht den Einsatz digitaler Medien in Schulunterricht und akademischer Lehre.

STEFAN OPPL
Univ.-Prof. Dr. Stefan Oppl leitet an der Donau-Universität Krems das Department für Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist videobasiertes Lernen. 

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