Die Corona-Krise war ein Impulsgeber für digitales Lernen an den Hochschulen. Um solche Ansätze künftig zu forcieren, braucht es entsprechende didaktische Konzepte und technische Skills, sagt der Universitätsprofessor für technologiegestütztes Lernen Stefan Oppl.

Interview: Tanja Traxler

upgrade: Welche Chancen birgt die Digitalisierung der Hochschullehre Ihrer Meinung nach?
Stefan Oppl: Die größte Chance dabei ist, Personen akademische Bildungsangebote zu machen, die sonst nicht die Möglichkeit dazu hätten. Es gibt viele Faktoren, die jemanden daran hindern können, ein klassisches Studium zu absolvieren: Betreuungspflichten, Erwerbstätigkeit, Sprachkenntnisse oder Schulbildung. Leider ist es immer noch so, dass viele Studien für einen prototypischen Ideal-Studierenden konzipiert sind und nicht für Heterogenität. Technologie und Digitalisierung können die Werkzeuge liefern, um Bildung zugänglicher zu machen.

Welche Risiken müssen dabei im Blick  behalten werden?
Oppl: Problematisch ist, wenn Technologie unreflektiert eingesetzt wird. Beispielsweise bloß, weil die Technologie da ist oder weil man denkt, es wird dadurch günstiger und effizienter. Die Vorstellung, dass eine aufgezeichnete Lehrveranstaltung dazu führt, dass wir nicht mehr präsent sein müssen, erfüllt sich nicht in der Realität. Die Technologie ist nicht so weit, die Lehrperson zu ersetzen – das wäre auch eine Dystopie. Technologie kann nur ein Werkzeug sein, kein Ersatz für die Präsenz von Lehrenden.

Bedingt durch die Corona-Krise wurde die Hochschullehre vielerorts rasch auf Distance Learning umgestellt. Denken Sie, die Lehrenden werden nach der Pandemie anders unterrichten als zuvor?
Oppl: Mein Eindruck war, dass der Umstieg erstaunlich gut funktioniert hat. An den Hochschulen hat sich in den vergangenen Monaten definitiv mehr bewegt, als sonst in zehn Jahre weitergegangen wäre. Meine Sorge ist aber, dass wenig hängenbleiben wird. Die Transformation war zu rasch und zu unstrukturiert. In vielen Fällen gab es Präsenzersatz-Lehre, aber es wurden keine technologiebasierten Lerndesigns neu aufgesetzt. Bei Ersatz-Formaten geht etwas ab und so hoffen alle, im Herbst wieder so unterrichten zu können, wie sie immer unterrichtet haben. Jetzt kennt man aber die Schmerzpunkte und vielleicht wird es mehr Weiterbildung für technologiebasierte Lehre geben. Das Learning by Doing bei den Lehrenden war wahrscheinlich nicht sehr nachhaltig.

Was sind denn die Voraussetzungen, damit es gelingen kann, neue Lehr- und Lernkonzepte zu entwickeln, die der digitalen Logik entsprechen?
Oppl: Das ist ein Henne-Ei-Problem von Technik und Didaktik. Denn es braucht einerseits neue didaktische Konzepte für die digitale Lehre. Doch um diese entwickeln zu können, muss man ein Gefühl dafür haben, was Technologie leisten kann. Wenn man aber zunächst mit der Technologie vertraut gemacht wird und zehn verschiedene Online-Tools kennenlernt, kann es leicht passieren, dass man in eine Tool-Logik verfällt und einfach das anwendet, was das Tool anbietet, ohne sich Gedanken zu machen, was das für das didaktische Konzept bedeutet. Die Herausforderung in der Ausbildung der Lehrenden besteht darin, Technik möglichst kontextfrei zu vermitteln und die Kompetenz zu bilden, diese entsprechend für die konzipierten didaktischen Szenarien auszuwählen.

Sie wenden technologiegestützte Methoden nicht nur in Ihrer eigenen Lehre an, sondern forschen auch dazu – welchen Fragen gehen Sie dabei nach?
Oppl: Ich beschäftige mich vor allem mit Heterogenität. In der Hochschullehre gehen wir oft von idealen Studierenden aus, die uneingeschränkt Zeit haben und hundertprozentig motiviert sind. Realistischerweise müssen wir aber von sehr heterogenen Rahmenbedingungen ausgehen. Mich interessiert, welche technischen Mittel wir nutzen können, um Lernprozesse individuell zu unterstützen und die Lernmotivation zu steigern – trotz unterschiedlicher Voraussetzungen. Zusätzlich forsche ich zu humanzentrierter Technologiegestaltung, wo wir uns mit der Interaktion von Menschen und Technologie beschäftigen. Weiters gehe ich der Frage nach, wie man mit Informationssystemen Bildungsprozesse begleiten kann. Das umfasst etwa, welche Metriken es gibt, um Lernenden zu zeigen, wo sie noch Verbesserungsbedarf haben. Aufbereitete Daten zu den Lernfortschritten können auch von Institutionen genutzt werden, um ihre Lernangebote zu verbessern – dieser Bereich ist unter dem Schlagwort Learning Analytics bekannt.

Learning Analytics ist im angloamerikanischen Raum viel stärker fortgeschritten als in deutschsprachigen Ländern. Woran liegt das?
Oppl: Ich denke, es gibt kulturelle Unterschiede, welche Form der Datenverwendung akzeptiert ist. Meiner Meinung nach lassen sich die datenrechtlichen Fragestellungen lösen, wenn man darauf verzichtet, individuelle Lernpfade zu analysieren und die Daten nur auf institutioneller Ebene nutzt. Im deutschsprachigen Raum ist Learning Analytics vor allem noch ein Forschungsthema, in anderen Ländern ist es schon viel stärker in der Praxis angekommen. Eine Forscherin in Estland konnte basierend auf den Daten über Schulabschlüsse die Abbruchwahrscheinlichkeit künftiger Studierender mit einer Trefferquote von 90 Prozent vorhersagen. Das ist beachtlich und auch erschreckend – denn natürlich ist das eine ethisch heikle Frage. Solche Ansätze passen nicht gut zur europäischen Datenschutzkultur, die ich sehr schätze. Wenn man aber von der individuellen Ebene weggeht und auf institutioneller Ebene die Merkmale von Risikogruppen identifiziert und ihnen Unterstützung zukommen lässt, kann das sehr positive Folgen haben.

„Ich möchte weg von ‚One Size Fits All’ hin zu einem didaktischen Konzept, das an die individuellen Bedürfnisse der Lernenden anpassbar ist.“

Stefan Oppl

In der Corona-Krise hat sich auch gezeigt, dass durch die technologiebasierte Fernlehre soziale Ungleichheiten noch weiter verstärkt worden sind – vor allem in der Schule. Wie lässt sich verhindern, dass sich die Digitalisierung der Bildung sozial selektiv auswirkt?
Oppl: Um das zu verhindern, muss die digitale Grundbildung schon in der Schule forciert werden. Meiner Meinung nach braucht es eine neue Kulturtechnik: So wie Lesen, Schreiben und Rechnen braucht es einen grundlegenden Zugang zu digitalen Geräten. Diese Geräte bieten eine derartig große Vielfalt an Interaktionsmöglichkeiten, dass es ein frühes Erlernen des Umgangs mit diesen Geräten braucht. Zusätzlich bedarf es wahrscheinlich einer breiteren Infrastrukturoffensive. Die Leute müssen die Geräte aber auch mit einer entsprechenden Unterstützung bereitgestellt bekommen, denn es hilft nichts, wenn man das Gerät zwar in die Hand gedrückt bekommt, aber beim ersten technischen Problem funktioniert es erst recht nicht mehr.

Wie sieht für Sie die ideale Lehre aus, wo sich der pädagogische und didaktische Mehrwert von digitalen und analogen Zugängen optimal ergänzen?
Oppl: Was ich erreichen möchte, sind Lernangebote, die den jeweils individuellen Bedürfnissen gerecht werden. Ich möchte weg von „One Size Fits All“ hin zu einem didaktischen Konzept, das an die individuellen Bedürfnisse der Lernenden anpassbar ist. Es wäre erstrebenswert, wenn Lernende stärker gestaltend im Lernprozess tätig werden und der Lehrende zum Lernbegleiter wird. Dabei gibt es aber ein Skalierungsproblem: Mit zwei, drei Studierenden funktioniert das wunderbar, mit 150 nicht. Dieses Problem kann Technologie teilweise lösen: Wenn sie richtig eingesetzt wird, können sich Lehrende dadurch den Raum schaffen, individuell mit Studierenden zu interagieren. Dann kommt man dem Ideal, was ein ideales technologiegestütztes Lernszenario sein kann, schon recht nahe.


STEFAN OPPL
Univ.-Prof. DI Dr. Stefan Oppl, MBA hält die Professur für technologiegestütztes Lernen an dem von ihm geleiteten Department für Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien der Donau-Universität Krems. Davor lehrte und forschte er an der Johannes Kepler Universität Linz, an der er sich in Wirtschaftsinformatik habilitierte und Informatik und Angewandtes Wissensmanagement studierte. Oppl forschte im Unternehmens- und universitären Bereich, u. a. an der Radboud University in Nijmegen, Niederlande. Er forscht u.a. zu Mensch-Technologie-Interaktion, Unterstützungsinstrumenten für kollaborative Lern- und Aushandlungsprozesse und flexiblen Lehr-Lern-Formaten.

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