Die Art, wie wir lernen, lehren und forschen, macht gerade Quantensprünge. Digitale Plattformen werden in der Wissensvermittlung nicht erst seit dem Corona-Shutdown wichtiger. Doch wer sorgt für Standards bei den Bildungstechnologien: der Markt oder die öffentliche Hand?

Von Alexandra Rotter

Ich finde es ziemlich kompliziert mit den verschiedenen Apps, mit denen wir arbeiten müssen“, zitiert die Tageszeitung „Der Standard“ die elfjährige Lucia. Stefanie-Laura war zuerst „von der Lernplattform LMS sehr überfordert“. Auch Nikolai und Valentin berichteten im Podcast „Ö1 macht Schule“ über mühsame Erfahrungen im Home-Schooling: Ihre Lehrer setzten verschiedene digitale Plattformen ein, wodurch die Burschen manches zu spät mitbekamen. An Schulen waren Zoom, Microsoft Teams oder Jitsi für Videokonferenzen im Einsatz, bei den Lernplattformen LMS oder Moodle, zudem E-Mails, teils WhatsApp. Inhalte wurden aber auch über Cloudanbieter wie Google-Drive geteilt. Was zum Einsatz kam, entschieden die Lehrkräfte. 

Auch an anderen Bildungseinrichtungen muss man sich für Lern-Technologien entscheiden. Viele Universitäten nutzen Moodle, eine Open-Source-Software, die an eigene Bedürfnisse angepasst werden kann, gratis ist und auf eigenen Servern läuft. Zusätzlich nutzen Forschende, Lehrkräfte und Studierende auch andere Programme. Doch sind sie in Sachen Datenschutz und Urheberrecht auf der sicheren Seite? Braucht es Standards? Wer bestimmt sie? Werden sich im Bildungsbereich nur eine Handvoll Programme durchsetzen? Und was, wenn sie von Google, Microsoft und Co stammen?

Für den Schulbereich stellt Martin Bauer, Abteilungsleiter für IT-Didaktik im Bildungsministerium, fest, das Ministerium wolle keine Plattformen vorgeben, „aber es soll auch nicht ein Wildwuchs an Tools und Plattformen entstehen“. Durch die Sars-CoV-2-Pandemie wurde deutlich, wie wenig sich manche Schulen zuvor mit digitalen Vermittlungsmedien auseinandergesetzt hatten. Bauer: „Es hat dort nicht gut funktioniert, wo sich die Lehrer wenig oder gar nicht mit digitaler Bildung beschäftigt haben.“ Allerdings hätten „nicht wenige Lehrer und Schulen“ das gemacht, etwa jene, die bei der Initiative eEducation Austria mitmachen. Damit will das Bildungsministerium digitale und informatische Kompetenzen in alle Klassenzimmer Österreichs tragen, wobei es vor Corona weniger um Fernlehre als darum ging, Inhalte durch digitale Tools anschaulicher zu machen. 3.000 Schulen sind Mitglied bei eEducation. Weitere staatliche Angebote, die es vorher schon gab, sind das Distance-Learning-Service Portal Edutube, wo Lehrkräfte und Lernende journalistisch verlässlich recherchierte Kurzvideos finden, oder die Eduthek mit Lern- und Übungsmaterial. Laut Bauer spreche nichts dagegen, auch Clouddienste von Google und Co zu verwenden, „solange diese sich an die Datenschutzgrundverordnung halten“. Dennoch will das Ministerium nachschärfen und den Schulstandorten bis Herbst empfehlen, sich für eine Bildungsplattform zu entscheiden, damit die Schüler nicht zwischen Plattformen wechseln oder ständig ein anderes Videokonferenzsystem öffnen müssen. Welche das sind, müsse man den Pädagogen überlassen.

Plattformen

Freie Software

Leonhard Dobusch, Professor für Organisation an der Uni Innsbruck, sagt, die Corona-Krise habe einen „totalen Schub im Bereich der Tool-Kompetenzen gebracht“. Viel mehr Lehrkräfte wüssten jetzt besser Bescheid und würden den Toolumfang mehr ausreizen. Das habe umso mehr gezeigt, dass sie Unterstützung brauchen. Schließlich müssen alle, die Inhalte über Plattformen teilen, wissen, unter welchen Bedingungen das erlaubt ist. „Richtung und Support“ müssten Bildungseinrichtungen bekommen. Unter Richtung versteht Dobusch Empfehlungen für digitale Angebote. Bei Support meint er Rechts- oder technische Beratung. Dobusch kann sich eine Open-Access-Stelle vorstellen, an die sich Lehrkräfte wenden können, wenn sie wissen wollen, ob und wie sie geschützte Inhalte teilen dürfen. Lehrkräfte öffentlicher Einrichtungen seien Teil des Ökosystems freien Wissens: „Die Frage ist: Wie leicht macht man es ihnen, ihr Wissen frei zu teilen?“ Gut funktioniere das mit Open-Source-Lösungen. Daher ist Dobusch ein Verfechter freier Software: „Mir ist wichtig, dass Formate veränderbar und nicht proprietär sind, sodass viele Leute damit umgehen können.“ 

Dobusch selbst hat in der Corona-Krise mit sieben Kolleginnen und Kollegen einen offenen Kurs zum Thema „Organizing in Times of Crisis: the Case of Covid-19“ ins Netz gestellt. Dafür stellten sie Lehrvideos auf YouTube. Die Wahl fiel auf den zu Google gehörenden Streaming-Dienst, weil er die größte Reichweite hat. Außerdem soll der Kurs über Suchmaschinen leicht gefunden werden. Hätte das Team die Videos auf der Uni-Website gehostet, „wären sie viel schlechter gefunden worden und die Funktionalität wäre schlechter gewesen“. Jetzt können die Videos auch andernorts gut eingebunden werden. Wenn Dobusch Präsentationen für seine Vorlesungen vorbereitet, beachtet der Wirtschaftswissenschafter und Jurist das Urheberrecht, damit er sie auch frei weiterverbreiten kann, und verwendet etwa keine Fotos aus dem Internet, für die er keine Nutzungsrechte hat.

„Wir wollen keine Plattformen vorgeben, aber es soll auch nicht ein Wildwuchs an Tools und Plattformen entstehen“

Martin Bauer

Urheberrecht auch bei E-Learning

Clemens Appl, Leiter des Zentrums für Geistiges Eigentum, Medien- und Innovationsrecht an der Donau-Universität Krems, zu den Regeln, die Lehrkräfte beim E-Learning aus urheberrechtlicher Sicht befolgen sollten: „Schul- und Bildungseinrichtungen dürfen urheberrechtlich geschützte Inhalte verwenden, ohne den Urheber um Erlaubnis zu fragen oder eine Lizenz zu erwerben, solange sie diesen und die Fundstelle nennen, sich umfänglich auf das didaktisch Notwendige beschränken und die Inhalte nur in geschlossenen Gruppen teilen.“ E-Learning-Plattformen wie etwa Moodle ermöglichen in der Regel die rechtlich gebotene Trennung von Lehrveranstaltungs-Gruppen sowie Zugangskontrollen. Schwierig sei es für Lehrende, wie Appl betont, den Umfang der zulässigen Nutzung von Werken Dritter zu bestimmen. Dabei folge der Umfang allein dem Zweck, sodass zwischen Illustration und Dekoration zu unterscheiden ist. Folglich sei es unproblematisch, fremde Werke zur Illustration von Lehrinhalten zu nutzen. Rein dekorative Nutzungen erfordern indes Lizenzen. Aber auch Lernende unterliegen laut Appl den urheberrechtlichen Spielregeln und dürfen beigestellte Unterrichtsmaterialien „jenseits des persönliche Lernzwecks“ nicht ohne Weiteres konsenslos nutzen. All das zeigt: Es braucht neue Kompetenzen, um mit digitalen Bildungstechnologien gut umgehen zu können.

Die Rolle der Marktmacht

Unter anderem an der starken Verbreitung von Zoom konnte man in der Lockdown-Zeit sehen, wie digitale Angebote dazu neigen, von selbst zu Standards zu werden: Wo am meisten los ist, gehen die meisten hin. Thomas Pfeffer vom Department für Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien von der Donau-Universität Krems sagt: „Marktmacht kann zur Standardisierung führen.“ Es kann aber auch die Offenheit eines Programms sein, die seinen größten Vorteil ausmacht – wie bei Moodle, das sich gegen hunderte kommerzielle Lernplattformen durchgesetzt hat. Pfeffer: „Moodle ist nicht deshalb so populär, weil es so ein perfektes System wäre. Aber die Software ist Open Source, kann von allen benützt und laufend weiterentwickelt werden.“ Und genau diese Offenheit müsse im Interesse des öffentlichen Bildungssystems sein. Pfeffer hält eine Diskussion zu Fragen digitaler Bildungsstandards für wichtig, die sowohl Hard- und Software als auch Medienprodukte wie Lehrunterlagen umfasst. Natürlich sei es großartig, dass etwa Google, Microsoft und Co viele Tools und Inhalte gratis anbieten. Trotzdem sei es Aufgabe der Politik, einen kritischen Umgang mit diesen Angeboten zu ermöglichen, zur Qualitätssicherung beizutragen und die Entwicklung von Unterlagen finanziell zu unterstützen. 

Überstürzen lässt sich aber nichts, denn Standardisierungs-Prozesse entwickeln sich langfristig. Beim Buchdruck habe es zwei Jahrhunderte gedauert, um die medialen Voraussetzungen für das formale Bildungssystem und die allgemeine Schulpflicht zu schaffen, so Thomas Pfeffer. Und Leonhard Dobusch denkt, dass viele Bildungsinstitutionen digitale Lösungen derzeit noch als Krückstock sehen. Dabei stecke in ihnen eine Chance, „zum Sprungbrett für das Ökosystem des freien Wissens zu werden“ – allerdings nur, wenn es genug Unterstützung gebe.


CLEMENS APPL
Univ.-Prof. Ing. Dr. Clemens Appl, LL.M. ist Leiter des Zentrums für Geistiges Eigentum, Medien- und Innovationsrecht an der Donau-Universität Krems. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Urheberrecht, Wettbewerbsrecht, Datenschutz sowie Software- und Technikrecht.

MARTIN BAUER
Mag. Martin Bauer, MSc ist Leiter der Abteilung Präs/15 IT-Didaktik im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Er hat Wirtschaftspädagogik an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert und einen Master in E-Learning und E-Teaching an der Donau-Universität Krems absolviert.

LEONHARD DOBUSCH
Univ.-Prof. Dr. Leonhard Dobusch ist Professor am Institut für Organisation und Lernen im Bereich Organisation der Universität Innsbruck. Zu seinen Schwerpunkten gehören Innovation, Standardisierung und private Regulierung. Er vertritt die Interessengruppe „Internet“ im ZDF-Fernsehrat.

THOMAS PFEFFER
Dr. Thomas Pfeffer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien der Donau-Universität Krems. Er beschäftigt sich mit Fragen der Bildung in verschiedenen Zusammenhängen, u. a. mit Migration. 

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