Vortrag
Von Fermin Suter im Rahmen der Veranstaltung in der Reihe:
"Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945" zu Ilse Tielschs Roman "Das letzte Jahr"
Das literarische Werk von Ilse Tielsch ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Vor allem in ihrer Prosa hat sich die 1929 im südmährischen Auspitz/Hustopeče geborene Autorin, die 1945 zur Flucht aus der Tschechoslowakei gezwungen war, der Vertreibung der Sudetendeutschen in facettenreicher Weise gewidmet. Weder verklärende Heimaterinnerungen noch einseitige Opfermythen bedienend, befragen ihre Texte Begriffe wie ›Heimat‹ und ›Herkunft‹ kritisch und machen den Prozess des Erinnerns und Vergessens selbst zum Thema. So beobachtet auch in dem 2018 wiederaufgelegten Roman Das letzte Jahr (2006) die neunjährige Elfi Zimmermann, wie 1938, im Jahr vor Ausbruch des 2. Weltkriegs, das interkulturelle Zusammenleben in ihrem südmährischen Heimatdorf zusehends durch allseitige nationalistische Rhetorik und Ressentiments überlagert und schließlich durch offene Feindschaft verdrängt wird. Damit kondensiert Tielsch, was sie u.a. mit Erinnerung mit Bäumen (1979), Die Ahnenpyramide (1980), Heimatsuchen (1982), Die Früchte der Tränen (1988) oder Die Zerstörung der Bilder (1991) begonnenhatte: ein kritisches literarisches Erinnerungsprojekt jenseits simplerSchuld- und Opfernarrative.
2017 hat Ilse Tielsch ihren literarischen Vorlass der Dokumentationsstelle für Literatur in NÖ / Landessammlungen NÖ übergeben.
Die Veranstaltungsreihe "Grundbücher" wurde 2001 von der Alten Schmiede gemeinsam mit dem Adalbert-Stifter-Institut Linz gegründet, seit 2016 beteiligt sich das Literaturhaus Graz an dieser Kooperation. Die Reihe setzt sich jährlich an vier bis fünf Abenden mit je einem Buch auseinander, dem aufgrund seines Themas oder seiner Ästhetik eine exemplarische Stellung zukommt; das für zeitgenössisches schriftstellerisches Schaffen besonders einflussreich war; das in der literarischen Öffentlichkeit eine spezifische Wirkung entfaltet hat.