Die universitäre Ausbildung verändert sich, wie ein Blick auf drei Kontinente zeigt: Zwischen grundständigem Studium und Weiterbildung verschwimmen die Grenzen. Digitalisierung und Micro-Credentials prägen diese Ära. Bildung wird flexibler und ortsunabhängig. 

Von Michael Köttritsch

 

Die grundständige akademische Ausbildung ist die, bei der man am Ende mit einem Bescheid nach Hause geht und sich mehr oder weniger intensiv als Bachelor, Master bzw. für das erlangte Magisterium oder Doktorat feiern lässt. Akademische Weiter­bil­dung ist, was darüber hinaus an Universitäten gelehrt und gelernt wird.

Entweder Aus- oder Weiterbildung. So einfach ist das. Oder: So einfach war das. Denn mittlerweile ist für die internationale universitäre Szene die Sowohl-als-auch-Ära angebrochen.

„Die Grenzen zwischen grundständiger akademischer Ausbildung und Weiterbildung“. sagt Attila Pausits, Leiter des Departments für Hochschulforschung an der Universität für Weiterbildung Krems, „verschwimmen zusehends.“

Nicht unwesentlich dazu beigetragen hat in Europa das Bologna-System – und weltweit Stackable Degrees und Micro-Credentials. Darüber hinaus, sagt Pausits, seien die Corona-Lockdowns Auslöser für die Digitalisierung gewesen: Bildung wurde zeit- und ortlos, über das von Fernstudien gekannte Maß hinaus, mitunter würden manche Programme ausschließlich online abgewickelt. Und mehr denn je hänge das Tempo, mit dem studiert wird, von den einzelnen Studierenden ab. Was daraus folgt, beschreibt Pausits so: „Die Lernbiografie ist nicht mehr linear.“

In Veränderung ist auch die Informations-Asymmetrie zwischen Universitäten und Studierenden: Bislang wissen die Weiterbildungsanbieter mehr über das Angebot als die potenziellen Studierenden – solange sie noch nicht selbst Teil des Programms und der Lehr-Lernprozesse sind. KI-gestützte Unterstützungs­hilfen, wie zum Beispiel Bildungsavatare, könnten die Bildungswahl neben persönlicher Beratung begleiten, so Pausits.

Im Spannungsfeld zwischen Nachfrage und Angebot von Weiterbildung werden die Modelle der Finanzierung von Aus- und Weiterbildung kritisch hinterfragt. Etwa: Soll das Grundstudium kostenpflichtig und das Weiterstudieren kostengünstig sein? Speziell incentiviert wird Weiterbildung schon jetzt in Frankreich mit dem „compte personnel de formation“. Dieses Konto, sagt Carmen Branescu, Direktorin für europäische und internatio­nale Entwicklung am Conservatoire National des Arts et Métiers (Le Cnam), ermögliche es allen Berufstätigen in Frankreich, sich Weiterbildung (teilweise) staatlich finanzieren zu lassen.

Verschwimmende Grenzen nimmt auch Meghan Grace für den US-amerikanischen Raum wahr. „Es zeichnet sich ein Trend zur Rückkehr erwachsener Lernender an die Unis ab“, sagt die Forscherin am Institute for Generational Research and Education.

Zwar steige in den USA der Zweifel am Wert der Hochschulbildung, besonders unter jungen Menschen. Gleichzeitig nehme die Nachfrage nach Zertifikats- und Mikro-Programmen zu, die praxisnah und berufsorientiert sind.

 

Rückkehr an die Uni

Neben der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen kämen jene, die ihr Studium unterbrochen haben oder sich weiterqualifizieren möchten, an die Universitäten zurück. „Das führt zu einer größeren Diversität unter den Studierenden und verlangt nach einer Anpassung von Inhalten und Lehrmethoden, weil Teilnehmende sehr unterschiedliche Lebensphasen, Erfahrungen und Prioritäten mitbringen.“

Oder wie es die Dekanin des Weiterbildungszentrums der Universität Regina, Christie Schultz, formuliert: „Von Regina in Kanada bis Krems in Österreich beschäftigt uns die Frage: Wie gestalten wir flexibles, relevantes und vertrauenswürdiges Lernen in einer Welt, in der sich sowohl Fähigkeiten als auch Erwartungen anscheinend über Nacht weiterentwickeln können?“

Denn auch sie stellt fest, dass Berufstätige in der Mitte ihrer Karriere, Neueinsteiger, sowie Erwachsene mit „einigem Universitätswissen, aber ohne Abschluss“, an die Ausbildungseinrichtungen kommen. „Das sind keine Nischenmärkte – sie sind ein wichtiger Teil der Zukunft der Hochschulbildung.“

Le Cnam widmet deshalb Berufstätigen ohne Abschluss, aber mit Berufserfahrung, spezielles Augenmerk. Die renommierte Pariser Hochschule leistet Pionierarbeit bei der Validierung von Vorbildung, indem sie Systematiken entwickelt hat, Berufserfahrung formell anzuerkennen.

„Die Lernbiografie ist nicht mehr linear.“

Attila Pausits

Drittes Lebensalter

Eine weitere Gruppe adressiert die National University of Singapore (NUS). Susanna Leong, deren Vizerektorin für Masterstudiengänge und lebenslanges Lernen sowie Dekanin der Fakultät für Weiterbildung und lebenslanges Lernen, sagt: „Wir haben für Führungskräfte, die einen neuen Sinn für ihr ,drittes Lebensalter‘ suchen, das Distinguished Senior Fellow­ship Programme eingeführt.“ Als erstes Lebensalter wird die Kindheit, als zweites das berufstätige Erwachsenenalter und als drittes die Zeit nach dem Berufsleben gesehen.

Abgesehen von diesem Programm zeige sich nicht nur in Asien, sondern auch in den USA der Trend des „Ich kann auch später noch einsteigen“. Die Flexibilisierung aber erschwere die Planbarkeit für die Universitäten, welche Formate, welche Inhalte, aber auch welche Infrastruktur Semester für Semester gebraucht werden wird. Und sie erschwere die Finanzierung der Weiterbildungsangebote.

Dazu komme, sagt Pausits, dass der Weiterbildungsmarkt ein globaler sei: Der Zugang für die Studierenden werde ein­facher. Gleichzeitig wird es für die Universitäten schwieriger, die richtigen Zielgruppen gezielt mit maßgeschneiderten Weiterbildungsangeboten zu erreichen.

 

Weiterbildung in Europa angestoßen

Das war einer der Gründe, warum die Universität für Weiterbildung Krems zu Beginn der 2020er-Jahre die Gründung der „European University for Academic Contin­uing Education“ forcierte. Gemeinsam mit neun weiteren Universitäten, darunter Le Cnam, der Andrássy Universität Budapest oder der Universität Ulm, bündelt man Kräfte, um Studierende noch besser auf die Herausforderungen der Welt von morgen vorbereiten zu können.

Was auf allen Kontinenten nachgefragt wird: datengestützte Entscheidungsfindung, Nachhaltigkeit, KI-Kompetenz und Management in Zeiten der Unsicherheit. Und daneben menschliche Fähigkeiten: Führungsqualitäten, Kommunikation, Innovation, interkulturelle Kompetenz.

In Letzterem sieht auch Meghan Grace eine Möglichkeit für die universitäre Weiterbildung, sich klar zu positionieren. „Die Universität ist ein Ort des Menschseins und der Menschlichkeit.“ Denn trotz digitaler Tools bleibe die menschliche Dimension zentral: Mentoring, soziale Interaktion und gemeinsames Lernen seien durch Technologie nicht ersetzbar. „Universitäten sollen Räume für Ethik und zwischenmenschliche Kompetenzen sein.“

Susanna Leong

„Wir haben für Führungskräfte, die einen neuen Sinn für ihr ,drittes Lebensalter‘ suchen, das Distinguished Senior Fellowship Programme eingeführt.“

Susanna Leong

Drängendes Thema

Dennoch: Künstliche Intelligenz in ihren verschiedenen Ausformungen, Anwendungen und Auswirkungen ist das drängende Thema – mit teils noch unabschätzbaren Konsequenzen für den universitären Betrieb. Das sieht auch Thorsten Philipp von der Technischen Universität Berlin so.

Er erlebt mit Blick auf die deutsche Hochschul-Szene ein großes Verlangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen und den Umgang mit KI in Lehre und Prüfungssituationen in den Griff zu bekommen. Das führe aktuell zu einiger Verunsicherung und sei zumindest aktuell „kein Sprung in eine gelingende Richtung. Viele sind überfordert, KI verantwortlich und verantwortungsvoll einzusetzen. Die Unis sind schlicht nicht vorbereitet darauf.“

Für Susanna Leong, hat KI das Poten­zial, „die Produktivität der Arbeit zu steigern. Wir setzen sie sehr umsichtig in unserer Lehre ein, unter der Aufsicht der Zentralverwaltung, da wir darauf achten wollen, dass KI so eingesetzt wird, dass sie das Lernen unterstützt und nicht behindert.“

Gefragt sind reflexive Tools, um beispielsweise zu ergründen: Wer bin ich, wenn ich KI verwende? Wie geht es mir damit? Welche Erfahrungen habe ich? Was ist meine Story? Diese reflexiven Räume, wie Thorsten Philipp sie nennt, gelte es auch zu verteidigen, „weil sich die Welt so schnell dreht“.

Für Susanna Leong, hat KI das Poten­zial, „die Produktivität der Arbeit zu steigern. Wir setzen sie sehr umsichtig in unserer Lehre ein, unter der Aufsicht der Zentralverwaltung, da wir darauf achten wollen, dass KI so eingesetzt wird, dass sie das Lernen unterstützt und nicht behindert.“

Gefragt sind reflexive Tools, um beispielsweise zu ergründen: Wer bin ich, wenn ich KI verwende? Wie geht es mir damit? Welche Erfahrungen habe ich? Was ist meine Story? Diese reflexiven Räume, wie Thorsten Philipp sie nennt, gelte es auch zu verteidigen, „weil sich die Welt so schnell dreht“.


ATTILA PAUSITS

Univ.-Prof. Dkfm. Dr. habil. Attila Pausits ist Professor für Hochschul- forschung an der Universität für Weiterbildung Krems, wo er das gleich- namige Department leitet.

 

CHRISTIE SCHULTZ

Assoz.-Prof.in Dr.in Christie Schultz ist Dekanin des Weiterbildungszentrums der Universität Regina, Kanada. Sie ist weiters in der Canadian Association for University Continuing Education (CAUCE) engagiert.

 

CARMEN BRANESCU

Carmen Branescu ist Direktorin für europäische und internationale Entwicklung am Conservatoire National des Arts et Métiers (Le Cnam).

 

SUSANNA LEONG

Prof.in Susanna Leong LL.M ist Vizerektorin für Masterstudiengänge und lebenslanges Lernen sowie Dekanin der Fakultät für Weiterbildung und lebenslanges Lernen an der National University of Singapore (NUS).

 

MEGHAN GRACE

Dr.in Meghan Grace ist Forscherin am Institute for Generational Research and Education, USA.

 

THORSTEN PHILIPP

Priv.-Doz. Dr. Thorsten Philipp ist wissenschaftlicher Referent für Transdisziplinäre Lehre an der Technischen Universität Berlin, wo er die strategische Förderung fächer- und institutionenübergreifender Lehrprojekte verantwortet.

 

LINKS

Artikel dieser Ausgabe

Zum Anfang der Seite