Schüler_innen und Studierende bewegen sich heute selbstverständlich zwischen physischen Hörsälen und virtuellen Lernräumen. Warum diese Doppelwelt neue Fähigkeiten erfordert – und der Mensch trotz aller Technik im Zentrum steht.
Von Philip Pramer
Vier Jahre ist es her, als Mark Zuckerberg eine neue Welt versprach. Die Corona-Pandemie war auf ihrem Höhepunkt, Schulen und Universitäten geschlossen, Millionen Menschen saßen vor ihren Laptops. Da kündigte der Facebook-Chef das Metaverse an: eine digitale Parallelwelt, in der Menschen als bunte Avatare durch virtuelle Büros wandeln, in 3D-Klassenräumen lernen und in künstlichen Welten leben sollten. Die Zukunft sollte in VR-Brillen stattfinden.
Zuckerberg ließ keine Superlative aus. „Wir sind überzeugt, dass das Metaverse der Nachfolger des mobilen Internets sein wird“, versprach er. Sein Konzern hieß fortan Meta statt Facebook, Milliarden flossen in die Entwicklung. Meetings mit Cartoon-Figuren, Vorlesungen als Hologramme, Teamarbeit in digitalen Räumen – das Metaverse sollte Arbeiten und Lernen revolutionieren.
Die Avatare sind verschwunden
Von den bunten Avataren ist heute keine Rede mehr. Metas VR-Sparte schreibt weiterhin Milliardenverluste, die Metaverse-Vision ist in der Versenkung verschwunden. Dennoch wird weiterhin virtuell gelernt und gearbeitet – nur anders, als Zuckerberg es sich vorgestellt hatte.
Am Center for Digitalization in Lifelong Learning der Universität für Weiterbildung Krems etwa erforscht Gerti Pishtari, wie virtuelles Lernen tatsächlich funktioniert. Der Wissenschaftler arbeitet, unter anderem mit Tobias Ley (siehe Interview S. 57), am Horizon-Forschungsprojekt TAICo – kurz für Teacher AI Complementarity. Hier geht es nicht um schillernde 3D-Welten, sondern um die praktische Frage: Wie können Lehrende und KI sinnvoll zusammenarbeiten?
„Wir wollen keine KI, die Aufgaben übernimmt, die Lehrer früher gemacht haben“, erklärt Pishtari. Stattdessen gehe es um Ergänzung: Technologie solle neue Formen des Lernens ermöglichen, die ohne sie nicht möglich wären.

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„Erfolg in soziotechnischen Umgebungen erfordert nicht nur technische, sondern auch Kommunikationsfähigkeiten, emotionale Intelligenz und pädagogische Skills.“
Gerti Pishtari
In Pishtaris Forschung entwerfen Lehrende zunächst auf eigene Faust Lerninhalte, dann mit digitaler Unterstützung, schließlich nach einer pädagogischen Schulung. Das Ergebnis: Die Qualität der Materialien verbessert sich deutlich – aber nur, wenn pädagogische Überlegungen die Technologie leiten, nicht umgekehrt.
Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt ein Beispiel aus Niederösterreich. Mehrere Berufsschulen in dünn besiedelten Gebieten haben sich zusammengeschlossen, um ihren Schüler_innen ein breiteres Angebot zu machen. Ein Teil der Klasse sitzt im Klassenraum bei der Lehrerin, der andere Teil ist digital aus anderen Schulen zugeschaltet.
„Das ist ein Beispiel, das sehr gut zeigt: Diese Technologien haben zwar Grenzen, aber sie bieten auch Möglichkeiten, die sonst nicht da wären“, sagt Pishtari. Die Schüler_innen müssen nicht mehr in andere Städte pendeln, um bestimmte Fächer zu belegen – sie können sie von ihrer Heimatschule aus besuchen.
Solche hybriden Ansätze sind für den Forscher die Zukunft. „Wir sollten eine Balance zwischen online und physischen Umgebungen halten“, meint er. Nicht alles lasse sich digitalisieren: „Schwierig wird es, wenn man für einen Biologiekurs irgendwo ins Feld muss, um Fauna und Flora zu verstehen.“
Doch welche Fähigkeiten brauchen Menschen überhaupt, um in dieser digitalen Arbeitswelt zu bestehen? Für Glenda Quintini von der OECD ist die Antwort klar: Wissen und Erfahrung im Umgang mit Künstlicher Intelligenz. „Heute ist Digitalisierung praktisch gleichbedeutend mit KI“, sagt die Leiterin der Abteilung für Skills und Future Readiness. „Beinahe jedes Tool, das wir verwenden, wird jetzt von KI unterstützt.“
Sie unterscheidet dabei drei Kategorien von KI-Expertise: „Es gibt eine wachsende Nachfrage nach Leuten, die KI programmieren und KI-Systeme warten können.“ Diese hochspezialisierten Rollen erfordern meist ein Universitätsstudium oder sogar eine Promotion – betreffen aber nur einen kleinen Teil der Arbeitnehmer_innen.
Viel größer ist bereits die Nachfrage nach Menschen, die verstehen, wie man mit KI arbeitet. „Es geht mehr darum, zu verstehen, wie KI funktioniert und wie wir sie in unser tägliches Leben integrieren können“, sagt Quintini. Hinzu kommt eine dritte Kategorie: KI-Kompetenz für alle. „Das bedeutet auch zu verstehen, welche Auswirkungen KI auf unsere Arbeit, die Privatsphäre oder das Verhalten haben könnte.“ Gerade für die letzteren beiden Gruppen fehlen aber oft Weiterbildungsangebote, heißt es in einer aktuellen OECD-Studie.
Empathie gefragt
Paradoxerweise macht die Digitalisierung ausgerechnet die menschlichsten Eigenschaften wertvoller. „Komplexe Interaktionsfähigkeiten sind das, was nicht von KI übernommen werden kann“, erklärt die OECD-Expertin. „Beeinflussen, verhandeln, Empathie – all die Fähigkeiten, die von Natur aus menschlich sind, bleiben für die KI vorerst schwierig.“
Gerti Pishtari bestätigt diese Beobachtung aus seiner Forschung: „Um erfolgreich in sozio-technischen Umgebungen zu arbeiten, brauchen Lehrkräfte und Studierende nicht nur technische Fähigkeiten, sondern auch Kommunikationsfähigkeiten, emotionale Intelligenz und pädagogische Skills.“ Der Grund sei das Dreieck zwischen Lehrenden, Lernenden und Technologie: „Eine gute Integration der Technologie passiert nur, wenn der Informationsfluss zwischen allen drei Akteuren funktioniert.“
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„Heute ist Digitalisierung praktisch gleich bedeutend mit KI.“
Glenda Quintini
Neue Lernformen entstehen
Auch die Art, wie Menschen lernen, verändert sich. Bereits heute findet ein Großteil des Lernens ohnehin nicht in Hörsälen oder Seminarräumen statt, sondern am Arbeitsplatz, informell: durch „Learning by Doing“, Kolleg_innen, in Gesprächen mit Vorgesetzten. Nun kommen digitale Formate hinzu – Apps, Online-Kurse, KI-gestützte Lernprogramme erweitern das Spektrum des selbstgesteuerten Lernens erheblich.
Statt stundenlanger Vorträge erhalten Mitarbeitende beim „Microlearning“ häppchenweise, passgenaue Lerninhalte genau dann, wenn sie diese brauchen. Früher sei maßgeschneidertes Lernen sehr teuer gewesen, „jetzt kann man tatsächlich für jeden Einzelnen ein maßgeschneidertes Training anbieten, auch in großem Maßstab, zu viel niedrigeren Kosten als früher“, sagt Quintini. Auch Menschen mit Behinderungen würden profitieren, weil KI Inhalte an verschiedene Bedürfnisse anpassen kann.
Während sich die KI-Welt extrem rasch entwickelt, ist das Bildungssystem aber bisweilen ein langsamer Tanker. Diese Tatsache ist aber nicht in Stein gemeißelt, sagt Pishtari – und erinnert an die Corona-Pandemie, in der Unternehmen und Bildungseinrichtungen kurzfristig auf Homeoffice und E-Learning umgeschwenkt sind. „Was alle diese Institutionen in 20 Jahren nicht wollten oder nicht machen konnten, haben sie in 20 Tagen gemacht, weil sie mussten.“
Keine stumpfe Technikverliebtheit
Dennoch warnt er vor vorschnellen Schlüssen. Nicht alles, was in der Pandemie funktionierte, taugt als Dauerlösung. Seine Empfehlung lautet daher: Für Unternehmen und Universitäten, die sich auf die nächsten zehn Jahre vorbereiten wollen, sollten zunächst ihre Ziele klären, bevor sie über Technologie nachdenken. „Es braucht eine Selbstevaluierung: Was sind unsere Ziele, unsere Mission? Was sind unsere Stärken und Limitationen?“, rät Pishtari.
Hinter allen technischen Innovationen steht eine einfache Frage: Was treibt Erkenntnis voran? „Als Forscher fühle ich mich glücklich“, resümiert Pishtari, „weil ich Fragen stellen kann, die mich interessieren, und dann versuchen kann, sie zu beantworten. Das ist eine Art Freiheit, die stimulierend ist und einen immer dazu bringt, etwas Neues zu erkunden oder neue Fähigkeiten zu entwickeln.“ Diese Neugier und Anpassungsfähigkeit werden wohl die wichtigsten Eigenschaften sein, die Menschen in der digitalen Zukunft brauchen – egal ob innerhalb oder außerhalb des virtuellen Raumes.
Philip Pramer leitet das Ressort Edition Zukunft bei „Der Standard“.
GLENDA QUINTINI
Glenda Quintini, Ph.D. ist Senior Economist bei der OECD, wo sie die Abteilung für Skills und Future Readiness leitet. Quintini ist Expertin für KI. Sie studierte Labour Economics an der Universität Oxford.
GERTI PISHTARI
Gerti Pishtari, PhD ist Senior Research Fellow am Zentrum für Digitali- sierung im lebensbegleitenden Lernen der Universität für Weiterbildung Krems. Pishtari erforscht die Potenziale der KI für Lehren und Lernen.
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