Künstliche Intelligenz bringt enorme Veränderungen für die Hochschulen mit sich, sagt die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny. Lebensbegleitendes Lernen brauche ein Update – auch aufgrund der demografischen Entwicklung.
Interview: David Rennert
upgrade: Frau Nowotny, wie sieht Ihre Vision für die Hochschulen im Jahr 2050 aus?
Helga Nowotny: Ich stelle mir eine sehr differenzierte, globale Hochschullandschaft vor. Unsere westliche Idee einer Universität mussten wir inzwischen erweitern, da die chinesischen Universitäten im Jahr 2050 eine international bedeutsame Rolle spielen werden. Wenn sich die geopolitischen Spannungen verringert haben, sollte es wieder reichlich Austausch an Wissen und von Menschen über nationale Grenzen hinweg geben. Universitäten brauchen den internationalen freien Austausch, um neues Wissen zu generieren und an die nächste Generation weiterzugeben.
Was bleibt am Begriff „Universität“ unverrückbar – was soll sich grundlegend verändern?
Nowotny: Der Begriff der „universitas“ ist längst jenem einer Multiversität im Plural gewichen, doch die entscheidende Frage wird sein, worin die Vielfalt besteht und wofür die Studierenden ausgebildet werden sollen. In den Anfängen der Idee von Universität stand die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, ungeachtet der Herkunft und des Alters – allerdings blieben Frauen großteils ausgeschlossen. Vielleicht sollten wir die Idee einer inklusiven Gemeinschaft all derer, die Wissen suchen, finden und weitergeben, auch für die Zukunft bewahren und mit neuen Inhalten füllen. Das käme einer radikalen Veränderung gleich.
Von welchen Entwicklungen erwarten Sie bis 2050 die größten Veränderungen?
Nowotny: Zweifellos werden von der KI die größten Veränderungen ausgehen. Doch wie diese aussehen werden, hängt davon ab, ob es gelingt, in den nächsten Jahren die Weichen für einen „digitalen Humanismus“ zu stellen.
Die Forschung verändert sich durch die Fortschritte bei KI enorm – welche notwendigen Veränderungen ergeben sich daraus für die forschungsgeleitete Lehre an den Hochschulen?
Nowotny: Angesichts der rapiden Entwicklung neuer KI-Modelle und KI-basierter Methoden ist die forschungsgeleitete Lehre gefordert, so nahe wie nie zuvor die letzten Entwicklungen zu kennen und entsprechend einzuschätzen. Das erfordert viele Veränderungen, die allerdings noch zu finden und auszuprobieren sind. Beispiele reichen von mehr Team-basierter Lehre über den Einsatz der etwas in Vergessenheit geratenen MOOCs (Massive Open Online Courses) in neuer Version zur Arbeit in kleineren Teams. Für diese und noch mehr ist viel Offenheit und Imagination gefragt, aber ebenso der Mut, Neues auszuprobieren.
Wo sehen Sie den sinnvollsten Einsatz generativer KI in der Lehre – und wo ziehen Sie rote Linien?
Nowotny: Rote Linien sind überall dort zu ziehen, wo gelogen, geschwindelt und betrogen wird – doch das gilt ohnedies auch jetzt. Sinnvoll erscheint mir der Einsatz überall dort, wo die Lehrenden und Studierenden gemeinsam kleine Experimente durchführen, um zu sehen, was die KI leistet, wo sie verlässlich ist und wo nicht und wie man die Grenzen des Einsatzes am besten erkennt. Es gilt also, neue Räume zu eröffnen, in denen gemeinsam experimentiert, wissenschaftlich argumentiert und letztlich wissenschaftlicher Konsens erzeugt werden kann – eine großartige Erweiterung dessen, wie Wissenschaft funktioniert.
Wie können Hochschulen ihren gesellschaftlichen Beitrag weiter stärken und sichtbar machen?
Nowotny: Indem immer wieder hervorgehoben wird, worin der größte gesellschaftliche Beitrag der Universitäten besteht: in der Ausbildung der jungen Menschen, die als Absolvent_innen einen unverzichtbaren Teil der Gesellschaft von morgen ausmachen.
Wie sollte sich „lebensbegleitendes Lernen“ in Zukunft weiterentwickeln – auch mithilfe neuer Technologien?
Nowotny: In fast allen europäischen Ländern sinkt die Fertilitätsrate und dadurch auch die Anzahl der Studierenden, wenn diese nicht durch Migration kompensiert wird. Derzeit sind die Universitäten für diese demografische Entwicklung in keiner Weise vorbereitet. Der Begriff „lebensbegleitendes Lernen“ stammt aus einer anderen Zeit und muss mit neuen, zukunftsweisenden Inhalten gefüllt werden. Das kann eine maßgeschneiderte Kombination von Beruf und Studium mit Beteiligung der Arbeitgeber oder des Staates sein, aber auch die Identifizierung neuer Zielgruppen oder das Erfinden von innovativen Nischen. Diversifizierung unter Einbezug neuer Technologien ist dabei unverzichtbar, doch zuerst muss das Bewusstsein für die demografische Entwicklung, die sich ja deutlich abzeichnet, geschaffen werden.
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„Universitäten können gesellschaftliche Defizite nicht ausgleichen. Sie können sich aber auf das konzentrieren, was derzeit am meisten Gefahr läuft, unterzugehen: kritisches Denken zu fördern.“
Helga Nowotny
Was können Hochschulen gegen die gesellschaftliche Polarisierung tun, ohne überheblich zu wirken?
Nowotny: Wenig. Uns sind die öffentlichen Räume, in denen fair und offen
diskutiert werden kann, weitgehend abhandengekommen. Die sozialen Medien überwuchern inzwischen alles, was früher die Bildung von Gemeinschaft gefördert hat und die es zu stärken gilt. Die Universitäten haben ihren zentralen Platz in der Gesellschaft längst verloren, doch sie sind einer der wenigen Orte geblieben, die kritisches Denken fördern können und sollen.
Nach langer Zeit sind Wissenschaft und Frauenpolitik in Österreich wieder in einem Ministerium vereint. Welche Möglichkeiten ergeben sich dadurch?
Nowotny: Das ist ein Glücksfall. Für die Wissenschaft bietet es unter anderem die Möglichkeit, die Beiträge von Frauen voll sichtbar zu machen, das vorzeitige Verlassen von akademischen Karrieren zu stoppen und den Anteil von Frauen in den Naturwissenschaften zu heben. Die Frauenpolitik erhält weitaus mehr Sichtbarkeit und wird gesellschaftspolitisch durch die Verbindung zur Wissenschaft aufgewertet.
Was braucht es, damit Europa wissenschaftliche Talente hält und anzieht?
Nowotny: Wissenschaftliche Talente zieht es dorthin, wo bereits ein kreatives, auf Exzellenz basierendes wissenschaftliches Biotop existiert: Exzellenz zieht Exzellenz an. Statt nach einem europäischen Harvard oder MIT zu streben, braucht es mehr europäische Universitäten, die über die Mitgliedsstaaten in Europa verteilt sind, aber mit denselben wissenschaftlichen Standards arbeiten und ein und dasselbe Diplom vergeben. Um wissenschaftliche Talente zu halten, braucht es die Möglichkeit zur Mobilität. Diese endet derzeit für Wissenschaftler_innen mit dem 50. Lebensjahr, da wir kein europäisches Pensionssystem haben. Zusätzlich: Englisch als Lingua franca und ein offenes, fremdenfreundliches und einladendes gesellschaftliches Umfeld.
Wie beurteilen Sie das im Kontext der aktuellen Entwicklungen in den USA?
Nowotny: Die USA schneiden sich unter Trump vom internationalen Zufluss wissenschaftlicher Talente ab, was auf längere Sicht gravierend negative Auswirkungen für die US-amerikanische Wissenschaft haben wird. Die bisher undenkbaren Eingriffe in die Autonomie der amerikanischen Elite-Universitäten werden zu deren Abwertung führen, verstärkt durch das in der „Make America Great Again“-Bewegung stark verankerte Ressentiment gegen Eliten.
Wie können Hochschulen durch unsichere Zeiten navigieren, in denen Wissenschaftsfeindlichkeit, Populismus und antiakademische Ressentiments zunehmen?
Nowotny: Durch eine Neubesinnung auf Prioritäten. Universitäten können weder gesellschaftliche Defizite ausgleichen noch die liberale Demokratie retten. Sie können sich aber auf das konzentrieren, was derzeit am meisten Gefahr läuft, unterzugehen: kritisches Denken zu fördern und jungen Menschen genügend Kompetenz an Wissen und Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft mitzugeben, um ihre Zukunft in diesem Sinn mitzugestalten.
David Rennert ist leitender Wissenschaftsjournalist bei der Tageszeitung „Der Standard“.
HELGA NOWOTNY
Dr.in Helga Nowotny, PhD ist Professorin emerita in Science and Technology Studies der ETH Zürich. Sie ist Gründungsmitglied und ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrates, ERC. Ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit hat sie unter anderem an das Wissen-schaftskolleg Berlin, die École des Hautes Études en Science Sociales, Paris, und als Visiting Professor an die Nanyang Technological University in Singapore geführt. Helga Nowotny ist Mitglied des Rates für Forschung, Wissenschaft, Innovation und Technologieentwicklung (FORWIT) und Vor- sitzende des Complexity Science Hub Vienna Science Advisory Board. Ihr neuestes Buch „Zukunft braucht Weis- heit“ wird im Herbst 2025 bei Matthes & Seitz erscheinen.
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