Rechtsextremist_innen und islamistische Influencer_innen teilen sich dasselbe Feindbild: die liberale Demokratie. Kluge Worte gegen ihre starken Narrative helfen wenig. Es braucht eine bessere Gegenerzählung.
Von Wolfgang Rössler
Es ist verlockend, sich über den selbst ernannten Scheich lustig zu machen. Der lange Vollbart, der aussieht, als wäre er mit einer Motorsäge gestutzt. Dazu Kopftuch, Kaftan, Badeschlapfen. Und dann dieser übertrieben Ernst, mit dem er Fragen beantwortet. Etwa jene, ob man in einer Moschee Fußball spielen darf. „Ja“, sagt Ibrahim al-Azzazi, solange man dort nichts kaputt macht. Immerhin.
Bis vor einem Jahr hat sich der in München geborene Endzwanziger auf TikTok und YouTube mit Fragen junger Muslima und Muslime beschäftigt. Und meistens lautete seine Antwort „Nein“. Al-Azzazi ist Salafist, er vertritt eine archaisch-fundamentalistische Auslegung des Islam. Geburtstagsfeiern seien verboten, ebenso die Teilnahme an Wahlen. Frauen hätten sich Männern unterzuordnen, wenn nicht, sollten diese Gewalt anwenden. Einzige Ausnahme: „Man darf Frauen nicht ins Gesicht schlagen.“
Weil er seine eigene Frau mit einem Schlagring verprügelt hatte, stand Al-Azzazi im Vorjahr vor Gericht. Inzwischen ist er untergetaucht, nach ihm wird gefahndet wegen Volksverhetzung. Er gilt als einer jener Influencer, die Ahmad G. beeinflusst haben – einen 23-jährigen Syrer, der im Februar in Villach mit einem Klappmesser einen Jugendlichen getötet und fünf weitere Personen verletzt hat. Der junge Mann ist nach Ansicht von DSN-Direktor Omar Haijawi-Pirchner kein Einzelfall. Der oberste Verfassungsschützer des Landes schätzt, dass sich die Anzahl der so genannten Gefährder – die zu einem Terroranschlag bereit wären – in Österreich im höheren zweistelligen Bereich bewege. Und unter diesen gebe es auch immer mehr strafunmündige Jugendliche. In einem Fall kam das DSN sogar einem zehnjährigen Buben auf die Schliche.
Al-Azzazi, der 130.000 Follower_innen auf TikTok hat und Interviews in reichweitenstarken Medien wie der BILD gab, hat den Bogen schließlich überspannt. Inzwischen ist er untergetaucht, die bayerische Polizei fahndet nach ihm. Aber es gibt unzählige weitere TikTok-Stars mit ähnlichen Ansichten, die von den Behörden unbehelligt bleiben. Häusliche Gewalt ist verboten. Nicht aber der Verweis auf Koransuren, die diese gutheißen. Und die meisten TikTok-Salafisten (es sind in der Tat nur Männer) wissen genau, wie weit sie gehen können.

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„Sie gehen clever vor. Hinter den Videos steckt ein komplexes Konzept. Die Topstars der Szene können davon gut leben.“
Nicolas Stockhammer
Meinung an der Grenzlinie
„Borderline-Content“ nennt das Nicolas Stockhammer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Sicherheitsforschung der Universität für Weiterbildung Krems. Inhalte und Formulierungen also, die gerade noch unter Meinungsfreiheit fallen. Dahinter stecke Kalkül: „Das ist ein Geschäftsmodell. Die Influencer verdienen Geld mit Werbung, Halal-Produkten und Pilgerreisen.“ Es handle sich mitnichten um Verrückte: „Sie gehen clever vor. Hinter den Videos steckt ein komplexes Konzept. Die Topstars der Szene können davon gut leben“, sagt er. Auch deshalb seien sie darauf erpicht, nicht mit Terrororganisationen wie dem IS in Verbindung gebracht zu werden. Das wäre schlecht für das Business.
Die Videos von Al-Azzazi und anderen holen aber orientierungssuchende Jugendliche mit muslimischem Hintergrund ab und bereiten den Boden auf für den IS. Sie sind eine Einstiegsdroge. Wer einmal im salafistischen Paralleluniversum gefangen ist, findet leicht Zugang zu Leuten, die junge Menschen über Chats manipulieren und zu Gewalt anstiften.
Dabei arbeiten salafistische Prediger über weite Strecken mit denselben Mitteln, wie ihre angeblich erbittertsten Gegner, die Rechtsextremen. Man teilt sich nicht nur die Bühne auf TikTok. Auch Ästhetik und Machart der Videos sind vergleichbar. Kein Zufall, meint Stockhammer: „Die Szenen kopieren voneinander.“ Etwa was Memes betrifft, hartgeschnittene Videos mit einschlägiger Musik oder die Gamification der Propaganda. Letzteres war eine Innovation der rechtsextremen „Alt-Right“ Bewegung in den USA. Inzwischen ist das auch in der islamistischen Szene Gang und Gäbe. Technisch sind die Feinde der Freiheit am letzten Stand.
Suche nach Zugehörigkeit
Das allein aber erklärt das Phänomen nicht. Es braucht eine Zielgruppe, die ansprechbar ist. Auch hier zeigen sich Überschneidungen. „Wir haben es mit jungen Menschen zu tun, die unter einer gewissen Orientierungslosigkeit leiden und nach Zugehörigkeit suchen“, sagt Walter Seböck, von der Universität für Weiterbildung Krems. Gerade Pubertierende seien anfällig: Probleme mit den Eltern, im Unterricht, Ausgrenzung am Pausenhof, Mobbing im Internet. All das führe zu einem starken Gefühl der Benachteiligung. „Es ist nicht schwer, sich mit 15 diskriminiert zu fühlen“, sagt Seböck. Das ist keine neue Entwicklung. Neu ist, dass die Welt zunehmend unübersichtlich wird, auch in Österreich. „Die Demokratie bietet kein geschlossenes Weltbild. Man muss sich dort erst zurechtfinden“, sagt Seböck. Und dabei fühlten sich viele Junge allein gelassen. Das ist ein Einfallstor für Radikale, die ein einfach gestricktes, schwarz-weißes Weltbild bieten und klare Antworten haben.
Nicht nur pubertierende Jugendliche hadern mit der modernen Welt. Und nicht nur sie sind empfänglich für demokratiefeindliche Botschaften. „Europa und der freie Westen sind im ideologischen Zangengriff. Wir werden von unterschiedlichen Seiten angegriffen“, sagt der Journalist und Autor Stefan Kaltenbrunner, der zu Jahresbeginn gemeinsam mit profil-Redakteur Clemens Neuhold ein Buch mit dem Titel „Allahs mächtige Influencer“ veröffentlicht hat. Kaltenbrunner hat sich besonders mit der islamistischen Propaganda und deren Auswirkungen auf Jugendliche beschäftigt. Auch er weist auf die Parallelen zum Rechtsextremismus hin – auch die gemeinsamen Feindbilder: freie Universitäten, Feminismus, die LGBTQ-Szene und eine diverse Gesellschaft. Die staatsfeindliche Propaganda extremer Agitator_innen auf TikTok richtet sich gezielt an die Jugend. Aber auch Erwachsene sind nicht gefeit gegen Fake-News auf Facebook, X und anderen Plattformen. Die Attacken auf die Freiheit kommen aus allen verfügbaren Kanälen. Der Kampf gilt dem „System“ – jenem Gesellschaftssystem der Demokratie, das Europa Wohlstand und Freiheit gebracht habe. Das, glaubt Kaltenbrunner, sei auch die Motivation für den Dauerbeschuss: Autokratische und diktatorische Regime würden die Demokratie fürchten. „Einer der Gründe für den russischen Überfall auf die Ukraine war die Angst vor der Anziehungskraft der Demokratie auf die eigene Bevölkerung“, sagt er. Die Feinde der Freiheit fühlen sich bedroht.
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„Europa und der freie Westen sind im ideologischen Zangengriff. Wir werden von unterschiedlichen Sei-ten angegriffen.“
Stefan Kaltenbrunner
Gegengewicht gegen Narrative
Hier, sagt Seböck, gelte es anzusetzen, wenn man eine weitere Radikalisierung verhindern möchte. Extremist_innen hätten schließlich keine „positive Vision“ zu bieten. „Die Blaupause sind letztlich failed states“. Die Macht der Radikalen sei die Macht ihrer kräftigen Narrative. Da brauche es ein Gegengewicht: „Leider sind Demokrat_innen erstaunlich spaßbefreit, wenn es um eine aufregende Darstellung der eigenen Stärken geht. Dieses Konzert spielen die anderen besser.“
Anders ausgedrückt: Mit Ermahnungen und Erklärungen ließe sich der Kampf gegen radikale Ideologien kaum gewinnen. Es brauche „coole Narrative“, die nicht nur auf den Verstand, sondern auch auf Gefühle zielen. Auch Demokratie brauche Pathos. Vielleicht, meint Seböck, sei der Dauerbeschuss von allen Seiten ein heilsamer Weckruf für die Demokratie, ihre vielen Vorzüge stärker und besser herauszuarbeiten, um ihre Gegner_innen mit den eigenen Waffen zu schlagen. Mit etwas mehr Witz und Subversion. Aber auch mit Leidenschaft und der Überzeugung, das bestmögliche Gesellschaftssystem gegen die autokratische Gefahr zu verteidigen. Seböck ist überzeugt, dass das gelingen kann: „Im Verteidigungsmodus ist die Freiheit am stärksten.“
NICOLAS STOCKHAMMER
Mag. Dr. Nicolas Stockhammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Sicherheitsforschung, wo er für den Research Cluster „Counter-Terrorism, CVE (Countering Violent Extremism) and Intelligence“ tätig ist.
STEFAN KALTENBRUNNER
Mag. Stefan Kaltenbrunner ist Journalist und Buchautor. Zuletzt veröffentlichte er mit Clemens Neuhold „Allahs mächtige Influencer: Wie TikTok-Islamisten unsere Jugend radikalisieren“. Kaltenbrunner war als Chefredakteur zuletzt für den Nachrichtensender PULS24 sowie für den online-Kurier und Datum tätig.
WALTER SEBÖCK
Der Politikwissenschafter und Sicherheitsforscher Assoz. Prof. Mag. Dr. Walter Seböck, MAS MSc MBA ist Leiter des Departments für Sicherheitsforschung der Universität für Weiterbildung Krems.
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