Wie lässt sich eine Gesellschaft gestalten, in der Freiheit und Sicherheit einander nicht ausschließen, sondern stärken? Eine Spurensuche zwischen Philosophie, Politik und Ökonomie.
Von David Rennert
Ist der Mensch von Natur aus schlecht? Wären sich Thomas Hobbes und John Locke je gegenübergesessen, sie hätten über diese Frage wohl trefflich streiten können. Persönlich sind sich die beiden einflussreichen Philosophen der frühen Neuzeit vermutlich nie begegnet. Beide beschäftigten sich aber im England des 17. Jahrhunderts mit Fragen nach dem Naturzustand des Menschen und der Legitimation von Herrschaft: Wie ist der Mensch ohne Staat, Gesellschaft und Gesetze? Die beiden Denker prägten mit ihren Ideen die moderne politische Theorie – und vertraten höchst unterschiedliche Ansichten.
Auf sich selbst gestellt, ist der Mensch bei Hobbes von gewaltsamer Selbsterhaltung, Machtstreben und Misstrauen gegenüber anderen getrieben – der Naturzustand ist ein „Krieg aller gegen alle“. Aus Angst vor dieser ständigen Unsicherheit wären Menschen bereit, ihre Freiheit zu großen Teilen aufzugeben und an einen starken Souverän abzutreten, der durch diese Macht für Sicherheit und Stabilität sorgen kann. Nur ein starker Staat könne verhindern, dass sich der Mensch, wie Hobbes es formulierte, als „Wolf dem Menschen“ gegenüber verhalte.
Demgegenüber stellte John Locke die Freiheit des Individuums ins Zentrum seines Denkens: Für ihn war der Gesellschaftsvertrag nicht primär ein Mittel zur Herstellung von Sicherheit vor Gewalt. Er sah den Hauptzweck vor allem darin, die natürlichen Rechte der Einzelnen zu schützen. Während Hobbes vor allem die Notwendigkeit staatlicher Macht zur Aufrechterhaltung von Ordnung betonte, warnte Locke vor dem Missbrauch dieser Macht und plädierte für eine Regierung, die an Rechtsstaatlichkeit und das Gemeinwohl gebunden ist. Für Locke ist der Staat nur so lange legitim, wie er die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger schützt. Wird dieser Auftrag verletzt, so haben die Menschen nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, Widerstand zu leisten.
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„Ein Staat, der versucht, jede Unsicherheit zu eliminieren, ist selbst der größte Unsicherheitsfaktor für seine Bürgerinnen und Bürger.“
Franz Eder
Ewiger Balanceakt
Dieses Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit durchzieht die Debatten über die Gestaltung liberaler Gesellschaften bis heute. Wie viel Sicherheit braucht Freiheit – und wie viel Freiheit verträgt Sicherheit? Wo endet die Freiheit des Einzelnen zu Gunsten der Sicherheit aller und wie können Grundrechte auch bei dynamischen Bedrohungslagen gewahrt werden? Fragt man Fachleute aus unterschiedlichen Gebieten, so findet sich schnell ein gemeinsamer Nenner: Antworten auf diese Fragen sind nie endgültig, sie müssen stets neu ausverhandelt werden.
„Wenn wir mit den klassischen Vertragsdenkern wie Hobbes argumentieren, dann gibt es den Staat, weil Menschen Schutz vor willkürlicher Gewalt suchen“, sagt der Politikwissenschafter Franz Eder von der Universität Innsbruck. „Aber je mehr Macht der Staat hat, desto eher schränkt er auch die Freiheiten der Menschen ein.“ Alle Mittel, die dem Staat zur Verfügung stehen, würden früher oder später auch auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger zum Einsatz kommen, zeigt sich Eder, der zu Sicherheits- und Verteidigungspolitik forscht, überzeugt. Daher sei er skeptisch gegenüber Überwachungsmaßnahmen wie dem Bundestrojaner: „Ich verstehe, dass man ihn braucht – aber die Auflagen für die Verwendung müssten sehr, sehr streng sein.“
In einer liberalen Demokratie müsse akzeptiert werden, dass es immer ein gewisses Maß an Unsicherheit geben wird, sagt Eder. „Ein Staat, der versucht, jede Unsicherheit zu eliminieren, ist selbst der größte Unsicherheitsfaktor für seine Bürgerinnen und Bürger.“ Wie stark aber Sicherheit oder Freiheit in einer Demokratie betont werden, sei stets im Wandel. „Es gibt immer wieder Bewegungen in die eine oder andere Richtung – mal hin zu mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheit, mal umgekehrt. Das ideale Gleichgewicht gibt es nicht, das Verhältnis muss stets neu ausverhandelt werden.“
Nach Terroranschlägen beispielsweise öffne sich für staatliche und politische Akteure ein Gelegenheitsfenster, um im Namen der Sicherheit mehr Mittel und Befugnisse zu erlangen und Freiheiten zu beschränken. Das könne legitim sein, dieses Fenster müsse aber auch wieder geschlossen werden. Dass Sicherheit nie Selbstzweck sein darf, betont auch Walter Seböck, Leiter des Departments für Sicherheitsforschung der Universität für Weiterbildung Krems. Eine Gesellschaft verliere ihre Würde, wenn sie Freiheit gegen Überwachung eintausche. Notwendig sei ein Gleichgewicht – auf Basis von Vertrauen (siehe Interview S. 15).
Wie Gesellschaften auf konkrete Bedrohungslagen reagieren, sei auch eine Frage der politischen Kultur, sagt Eder. In Österreich verortet der Politikwissenschafter eine eher langsame, manchmal träge, aber auch stabilisierende politische Kultur, in der nicht nur raschen Reformen, sondern auch einer schnellen Ausweitung staatlicher Macht Grenzen gesetzt sind.
Unverzichtbare Debatte
Apropos politische Kultur: Unverzichtbar sei eine breite Debatte über Freiheits- und Sicherheitsthemen, sagt Eder. „Die Bevölkerung braucht einen öffentlichen Diskurs. Wenn sie den nicht bekommt, kann sie sich kaum eine Meinung bilden oder findet etwas wichtig, das nicht wichtig ist.“ Das sehe man am Beispiel des Klimawandels. „Die Klimakatastrophe ist eine Klimakatastrophe, das ist einfach ein Faktum, es sagt uns die Naturwissenschaft, dass der Hut brennt. Aber wenn wir uns das letzte Jahr anschauen, ist das Thema in der Bedeutung nach unten gewandert. Und zwar nicht, weil es kein Problem mehr ist, sondern weil die Öffentlichkeit und vor allem die Politik über andere Themen redet.“
Eder und seine Kollegen führen jährlich Umfragen zu den Einstellungen der Österreicher zu außen- und sicherheitspolitischen Themen durch. Da zeige sich, dass das Unsicherheitsgefühl durchaus hoch ist. Es sind aber nicht Kriege, Terrorismus oder eben der Klimawandel, die den Menschen die größten Sorgen bereiten, sondern wirtschaftliche Themen: Angst vor Inflation, vor Einkommensverlust, Sorge um den eigenen Status. Diese Themen seien in den vergangenen Jahren im politischen Diskurs besonders stark bearbeitet worden, sagt Eder. „Wenn wir in Österreich beginnen, stärker über Außen- und Sicherheitspolitik zu reden, werden diese Themen auch weiter nach oben wandern.“

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„Ich sehe nicht, dass immer ein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit bestehen muss: vom einen mehr zu bekommen und zwangsläufig vom anderen weniger zu haben.“
Anne Siegetsleitner
Kein Entweder-Oder
Aber ist das Tauziehen zwischen Freiheit und Sicherheit wirklich eine unverrückbare Konstante? Keineswegs, wenn es nach der Philosophin Anne Siegetsleitner geht. „Ich sehe nicht, dass immer ein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit bestehen muss, dass ich, wenn ich vom einen mehr bekomme, vom anderen zwangsläufig weniger habe“, sagt die Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Innsbruck. „Sicherheitsräume schaffen ja auch Freiheitsräume. Schutzzonen haben zumindest in liberalen Gesellschaften den Zweck, Freiheitsräume zu ermöglichen. Das gilt für die Privatsphäre ebenso wie für gesellschaftliche Räume, in denen Menschen anders leben können, ohne ständig beurteilt zu werden.“
Freiheit sei kein abstrakter Wert, sondern immer relational: Frei wovon? Frei wozu? Wessen Freiheit? Im Konkreten könne die Einschränkung der Freiheit des einen die Freiheit eines anderen ermöglichen – in diesem Fall stehe nicht Freiheit gegen Sicherheit, sondern Freiheit gegen Freiheit. „Wenn die Willkür der Stärkeren nicht eingeschränkt wird, bedeutet das kleinere Freiheitsräume für alle, die schwächer sind“, sagt Siegetsleitner.
Zugleich betont die Philosophin, dass vermeintliche Sicherheit Freiheitsräume auch einschränken kann. Sehr viel von dem, was wir vom Staat an Sicherheit verlangen würden, sei eigentlich ein Anspruch an den Sozialstaat, nicht an den Sicherheitsstaat, sagt Siegetsleitner. Das Streben nach sozialer Sicherheit, etwa durch Gesundheitsversorgung, Arbeitslosenunterstützung und Pensionen, eröffne vielen Menschen reale Freiheitsräume. Mit zunehmender staatlicher Verantwortung würden aber auch die Eingriffsrechte des Staates wachsen – auf Kosten von bürgerlichen Freiheiten: „Je höher meine Ansprüche an den Staat sind, umso legitimer werden auch Einschränkungen. Die Privatsphäre von Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, war immer schon geringer als die jener, die weniger staatliche Ressourcen erhalten. Wenn man das weiterdenkt: Der totale Sozialstaat kann kein liberaler Staat sein.“
Auch sei mehr Regulierung nicht gleichbedeutend mit mehr Sicherheit – obwohl bei vielen Menschen dieses Gefühl entstehe. „Mehr Regeln bedeuten nicht automatisch mehr Sicherheit – oft wird Sicherheit auch nur imitiert.“ Insbesondere in Krisenzeiten wie etwa während der Corona-Pandemie habe sich gezeigt, wie schnell Maßnahmen als Sicherheit empfunden würden: „Je strenger die Vorgaben wurden, desto sicherer fühlten sich viele – auch in Fällen, in denen es faktisch keine Evidenz für den Nutzen gab“, sagt Siegetsleitner.
Verlorenes Vertrauen
Durchaus komplementär können Freiheit und Sicherheit auch aus ökonomischer Perspektive sein, sagt Harald Oberhofer, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der WU Wien. „Unter Freiheit würde man aus wirtschaftlicher Perspektive wohl verstehen, dass man im Rahmen eines rechtlichen Umfelds die Sicherheit hat, als Individuum ökonomisch so frei wie möglich agieren zu können.“
Aus diesem Blickwinkel sei Sicherheit keine Einschränkung wirtschaftlicher Dynamik, sondern eine Voraussetzung – insbesondere im Bereich der Innovation. „Für Innovation ist entscheidend, dass man eine gewisse Sicherheit darüber hat, profitieren zu können, wenn man erfolgreich ist“, betont Oberhofer. In der Praxis bedeutet das: Schutz geistigen Eigentums, funktionierende Rechtsstaatlichkeit, international anerkannte Patentregeln. Ohne diese Basis sei wirtschaftliche Kreativität kaum möglich. „Wenn ich davon ausgehen muss, dass meine Idee sofort gestohlen wird und ich meine Rechte nicht durchsetzen kann, dann investiere ich erst gar nicht.“ Gerade in Zeiten wachsender Industriespionage und strategischer Technologietransfers – etwa im Spannungsfeld mit China – gewinne diese Sicherheitsdimension in der Ökonomie an Bedeutung.
Zugleich warnt Oberhofer vor einem Missverständnis von Sicherheit, wie es sich in protektionistischen Maßnahmen manifestiert. Die Handelspolitik der USA unter Donald Trump sieht er als Beispiel für eine „Sicherheitsstrategie ohne klare Zieldefinition“. Zölle gegen China könnten noch mit der Konkurrenz der beiden Großmächte und dem Systemkonflikt zwischen liberaler Demokratie und autoritärer Staatswirtschaft erklärt werden. Doch wenn auch traditionelle Partner wie die EU, Mexiko oder Kanada mit denselben Maßnahmen belegt würden, entstehe vor allem eines: wirtschaftliche Unsicherheit. „In so einem Umfeld weiß niemand mehr, was morgen gilt – und das ist Gift für Investitionen.“ Planungssicherheit sei für langfristige wirtschaftliche Entscheidungen zentral. Wenn durch politische Willkür Vertrauen zerstört werde, schade das letztlich auch jenen Staaten, die sich damit eigentlich schützen wollen.
Alle Fachleute betonen, dass das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit immer in Bewegung sei. „Wir müssen uns als Gesellschaft stets fragen: Was wollen wir schützen? Wofür brauchen wir Regeln – und wo wollen wir Freiheit?“ sagt Siegetsleitner. „Für diesen Aushandlungsprozess müssen wir Diskursräume offenhalten, in denen wir diese Fragen diskutieren können. Nur dann können wir die Balance finden, die ein gutes Leben für viele ermöglicht – mit all den Kompromissen, die dazugehören.“
FRANZ EDER
Assoz. Prof. Dr. Franz Eder ist assoziierter Professor für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Er forscht unter besonderer Berücksichtigung u.a. zum Thema Sicherheitspolitik.
WALTER SEBÖCK
Assoz. Prof. Mag. Dr. Walter Seböck, MAS MSc ist Leiter des Departments für Sicherheitsforschung an der Universität für Weiterbildung Krems und assoziierter Professor für Sicherheitsstudien.
ANNE SIEGETSLEITNER
Univ.-Prof.in Dr.in Anne Siegetsleitner hält die Professur für Praktische Philosophie an der Universität Innsbruck, wo sie das Institut für Philosophie leitet. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf mehreren Gebieten der Allgemeinen und der Angewandten Ethik.
HARALD OBERHOFER
Univ.-Prof. MMag. Dr. Harald Oberhofer ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien und als Senior Economist am Wirtschaftsforschungsinstitut in der Forschungsgruppe "Industrie-, Innovations- und internationale Ökonomie" tätig.
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