Ein Blick nach Kanada, Singapur und Irland zeigt, dass Weiterbildung und lebensbegleitendes Lernen das Potenzial haben, die zeitlichen und räumlichen Grenzen von Bildung und Lernen dauerhaft zu verschieben.
Von Cathren Landsgesell
George Iwama ist eigentlich Zoologe, aber vor allem ein Visionär, was die Zukunft universitärer Weiterbildung betrifft: „Ich stelle mir vor, dass Studienangebote noch offener und inklusiver werden: Disziplinen, Ort und Zeit des Studierens – alles kann sich von den jetzigen Strukturen lösen und umfassende Bildung ermöglichen“, sagt er.
Was Iwama formuliert, entspricht relativ genau dem, was internationale Organisationen wie die UNESCO sich schon 1972 für Bildung und Weiterbildung wünschten. Bildung als Weg, nicht als Ziel: „Wir sollten uns nicht mehr eifrig und ein für alle Mal Wissen aneignen, sondern lernen, wie wir ein Leben lang einen sich ständig weiterentwickelnden Wissensschatz aufbauen können – ‚lernen zu sein‘“, schreibt Edgar Faure im Vorwort zu dem unter seinem Vorsitz verfassten Bericht „Learning to Be. The World of Education Today and Tomorrow“. Es ist dieser Bericht und dieses Vorwort, in dem lebenslanges Lernen besonders betont wird, dessen Ziel nicht eine Ausbildung ist, die begonnen und abgeschlossen wird, sondern Bildung zum „ganzen Menschen“.
Beispiel Kanada
„Wir beobachten schon seit einigen Jahren, dass Studierende Ort und Struktur ihres Studiums lieber selbst wählen und weniger gewillt sind, sich in die üblichen Strukturen der formalen Bildung einzufügen. Sie sind viel offener und vor allem international orientiert“, sagt George Iwama, der sich in seiner Zeit als Präsident und Vizerektor der Quest University und der University of Northern British Columbia (UNBC) für eine Erweiterung der disziplinären und räumlichen Grenzen der universitären Weiterbildung stark gemacht hat.
Als es mit der Covid-Pandemie selbstverständlich wurde, Lehrveranstaltungen „hybrid“ für die Teilnahme online und offline zu konzipieren, erhöhten sich die Freiheitsgrade, erklärt er. Ein besonders erfolgreiches Format der UNBC in Kooperation mit weiteren Universitäten in Kanada und Japan war etwa eine Studienreihe im Bereich Gender Studies, die vollkommen virtuell stattfand, und zwar für Studierende in Kanada und in Japan: „Die Zeitzonen überlappen sich von zwei Uhr am Nachmittag bis sechs Uhr am Abend. Das konnten wir nutzen für ein multinationales und eigentlich Kontinent übergreifendes Angebot“, erzählt Iwama, der die Idee weiterdenkt. Es seien etwa neue Studienrichtung oder Vertiefungen möglich: „Warum nicht kollaborative Arctic Studies oder Pacific Studies anbieten?“
Speziell die universitäre Weiterbildung, die in Zukunft kein Add-on mehr sein wird, könne derartige Angebote machen – und auf diese Weise auch internationale Studierende und Lehrende gewinnen: „Die räumlichen und zeitlichen Grenzen des Lernens lösen sich auf, auch die Unterscheidung von formaler Bildung und Weiterbildung. Das Lernen wird von selbst eine globale Perspektive bekommen“, ist Iwama überzeugt.
Beispiel Singapur
Das Konzept des lebensbegleitenden Lernens ist an der National University of Singapore (NUS) bereits seit ihrer Gründung 1905 verankert. Weiter- und Ausbildung werden nicht als getrennte Bereiche betrachtet, sondern sind an der NUS integriert: „In dem wir die Ausbildung mit der beruflichen Weiterbildung verknüpfen, wollen wir einen flexiblen Lehrplan schaffen, der kritisches Denken und die Kompetenzen des 21. Jahrhunderts fördert“, sagt Susanna Leong, Vizeprovost der Master-Programme und Lebensbegleitendes Lernen sowie Dekanin der Schule für Weiterbildung und Lebensbegleitendes Lernen der NUS.
Die Programme der NUS sind multi- und interdisziplinär ausgerichtet: „Wir arbeiten eng mit öffentlichen Stellen, Unternehmen und Wissenschaftlern zusammen, um Qualifikations- und Wissenslücken zu schließen und so das Wachstum und die Entwicklung von vier Schlüsselbereichen der Wirtschaft zu unterstützen: Green, Digital, Care und Industrie 4.0“, fasst Leong zusammen.
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„Lebensbegleitendes Lernen ist ein organisatorisches Konstrukt - es entwickelt sich weiter, wenn sich die Menschheit weiterentwickelt. “
Susanna Leong
Die größten Triebkräfte des Wandels seien heute Technologien, die vor allem bewirken, dass Veränderungen beschleunigt stattfinden. „Jede Epoche in der Geschichte ist wohl transformativ, der einzige Unterschied ist die Geschwindigkeit des Wandels“, so Leong. Singapur insgesamt sei es seit der Skills Future-Bewegung ab 2015 gelungen, ein vielfältiges Ökosystem kontinuierlichen Lernens zu entwickeln, das durch das Bildungsministerium aktiv gefördert wird. „Lebensbegleitendes Lernen ist ein organisches Konstrukt - es entwickelt sich weiter, wenn sich die Menschheit weiterentwickelt. In Anbetracht der sich ständig weiterentwickelnden Arbeitswelt, der Anforderungen am Arbeitsplatz, der technologischen und der geopolitischen Gegebenheiten gehen wir davon aus, dass lebensbegleitendes Lernen in Zukunft noch stärker im Bildungssystem verankert sein wird. Unsere Verantwortung als Hochschule besteht darin, die Nase vorn zu haben und unseren Studierenden bei der Suche nach Lösungen für die Probleme von morgen Wachstum und Entwicklung zu ermöglichen.“
Beispiel Irland
Emanzipation und Selbstbestimmung könnte man als Leitmotive der Erwachsenenbildung am University College Cork nennen. Dort ist das älteste Zentrum für Weiterbildung in Irland beheimatet. Zwar wurde das Zentrum ACE (Adult Continuing Education) erst 1946 gegründet, doch seine Ursprünge reichen ins 19. und frühe 20. Jahrhundert zurück, wie Séamus Ó Tuama, Direktor des ACE, erklärt: „1911 etablierte der damalige Präsident des College, Bertram Windle, die Erwachsenenbildung am College; einer der wichtigsten Anführer der irischen Unabhängigkeitsbewegung, James Connolly, schrieb ein Programm für die Weiterbildung an dieser Universität und Alfred O'Rahilly, ab 1943 Präsident des College und ebenfalls in der irischen Unabhängigkeitsbewegung aktiv, war es, der dieses Zentrum schließlich gründete.“
Weiterbildung und Erwachsenenbildung standen und stehen heute noch im Zeichen einer inklusiven Universität. Das University College Cork – einer ihrer berühmtesten Professoren war Charles Boole – war eines der ersten in Irland, das sich auch an die Landbevölkerung wandte und auch Frauen eine Ausbildung ermöglichte, Alfred O’Rahilly entwickelt eigene Erwachsenenbildungsprogramme für diese Zielgruppe. „Schon direkt nach der Unabhängigkeit Irlands 1922 lag der Schwerpunkt in der Bildung ganz klar auf der Ermächtigung der Menschen“, so Ó Tuama. Diese Ausrichtung behielt das UCC bei.
Der Fokus ist auch heute noch auf Demokratie und Teilhabe ausgerichtet. Weiterbildung steht im Dienste nicht nur einer Berufsausbildung, sondern – im Sinne der Vision der Vereinten Nationen von 1972 – im Dienste der sozialen und politischen Teilhabe. Überall in der Republik Irland, an den Universitäten ebenso wie in anderen Bildungseinrichtungen wurden Angebote für die Erwachsenenbildung geschaffen. Über die Jahrzehnte trug der Ansatz Früchte. Bildung und Weiterbildung hätten einen entscheidenden Anteil daran gehabt, dass sich Irland von einem „sehr konservativen“ Land zu einem der liberalsten Länder Europas entwickeln konnte.
Bildung hat einen automatischen Feedbackloop. Ó Tuama erklärt es so: „Wenn Menschen länger in Ausbildung sind, wie in Irland ab den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, ändert sich das Verständnis von Bildung auch für diejenigen, die nicht an einer Universität sind. Je verbreiteter Bildung ist – gleichgültig auf welchem formalen Niveau – desto mehr wird Bildung als Teil des Lebens gesehen und nicht mehr als eine abzuschließende Etappe und umso mehr Menschen nutzen die Chancen von Wissen und Weiterbildung.“
GEORGE IWAMA
Dr. George Iwama ist emeritierter Präsident der Quest University, außerordentlicher Professor für Zoologie an der UBC, Gastprofessor an der Ryukyu University in Okinawa, Japan und Mitglied des Direktoriums des LaSalle College Vancouver.
SUSANNA LEONG
Prof.in Susanna Leong LL.M ist Rechtswissenschaftlerin und Vize-Provost (Masterprogramme und lebenslange Bildung) der National University of Singapure, Dekanin der dortigen School of Continuing and Lifelong Education sowie Professorin für Strategie und Politik.
SÉAMUS Ó TUAMA
Dr. Séamus Ó Tuama ist Politikwissenschaftler und leitet als Direktor das ACE (Adult Continuing Education) am University College Cork, wo er am Department of Government Politikwissenschaften lehrt.
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