Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich im Bildungssystem eine stärkere Orientierung zu Kompetenzen ab. Ein Trend, der auch Hochschulen erfasst. Entsprechen die hohen Erwartungen an Problemlösungsfähigkeiten der Bildungsrealität?

Von Milena Österreicher

Ein Blick in die Lehrpläne vor 30 Jahren zeigte vor allem eines: Den Inhalt der Lehrveranstaltung, sprich welcher „Stoff“ vermittelt werden sollte. Heute scheint es in eine neue Richtung zu gehen, und zwar: Mit welchen Kompetenzen verlassen Studierende die Lehreinheit? „Wir beobachten seit der Jahrtausendwende den Versuch, von einer ursprünglichen eher wissensbasierten zu einer verstärkten kompetenzbasierten Beschreibung von Bildungszielen zu kommen“, erklärt Thomas Pfeffer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für technologiegestütztes Lernen und Bildungsinformationssysteme der Universität für Weiterbildung Krems. „Gegenüber den Lerninhalten gewinnen die Lernergebnisse an Bedeutung“.

Ein prominentes Beispiel sei PISA. In den internationalen Schulleistungsuntersuchungen, durchgeführt in den meisten OECD-Mitgliedstaaten seit dem Jahr 2000, werden Fähigkeiten wie Lesekompetenz oder mathematische Grundkompetenzen abgeprüft. Hier zählt nicht, wie viel Lehrinhalt die Teilnehmenden noch wissen, sondern wie gut sie die ihnen gestellten Aufgaben lösen können.

Zentrale Fähigkeiten

Thomas Pfeffer verglich mit seiner Kollegin Alexandra Gössl in einer kürzlich veröffentlichten Studie sieben internationale Kompetenzmodelle. Neben PISA waren dies etwa die acht Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen der EU oder der OECD-Lernkompass 2030.

Für Pfeffer kristallisierten sich in den Modellen vor allem zwei große Bereiche heraus: kognitive Fähigkeiten, wie Lesen, Schreiben und digitale Kompetenzen, sowie verschiedene sozio-emotionale Fähigkeiten, etwa Selbstorganisation, zwischenmenschliche Kompetenzen, Teamfähigkeit oder Umweltbewusstsein.

Kompetenz-Wirrwarr

„In allen sieben Modellen wird zwar auf eine kompetenzorientierte Beschreibung von Bildungszielen abgezielt. Die dabei verwendeten Kategorien und Konzepte unterscheiden sich aber deutlich. Dies erschwert die Verständigung“, kritisiert Pfeffer. In Österreich gebe es keine Vorgabe, ob Hochschul-Curricula etwa mit den Dublin-Deskriptoren aus dem Bologna-Prozess oder selbstgewählten Deskriptoren beschrieben werden sollen. Deskriptoren beschreiben die Erwartungen, welche Fähigkeiten Studierende am Studienende erreicht haben sollen.

In der österreichischen Novelle des Universitätsgesetzes (UG) 2021 wurden aber erstmals explizit Lernergebnisse zur Beschreibung von Bildungszielen erwähnt. „Die Universitäten in Österreich hatten bereits zuvor begonnen, diese einzuführen“, erklärt Thomas Pfeffer. Befördert wurde der Prozess durch die europaweite Bologna-Reform, die unter anderem Uni-Abschlüsse durch die Einführung der Bachelor/Master/PhD-Struktur harmonisierte.

Verstärkte Kompetenzorientierung

Die UG-Novelle 2021 bedeutete auch für die Universität für Weiterbildung Krems einige Neuerungen. Die Zulassungsvoraussetzungen für den Weiterbildungsmaster veränderten sich. Nun ist ein Bachelor mit 180 ECTS-Punkten zwingend erforderlich. „Wir haben das als Chance gesehen und überlegt: Wie können wir das, was wir bisher angeboten haben, noch besser an gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen unserer Zeit anpassen?“, sagt Nikolai Neumayer, stellvertrender Leiter des Departments für Wissens- und Kommunikationsmanagement der UWK. Dabei sei auch eine verstärkte Kompetenzorientierung eingeflossen.

„Bei uns war es schon in der Vergangenheit so, dass mindestens 50 Prozent des Studiums dem Fachlichen gewidmet ist“, sagt Neumayer, der für die Neuerstellung und Änderungen der Curricula zuständig war. In den neuen Bachelorstudien beschäftigen sich Lehrveranstaltungen nun im Ausmaß von 90 ECTS mit fachlichen Kompetenzen, 60 ECTS mit universellen Kompetenzen, wie Zeitmanagement oder Kommunikationskompetenzen, und die restlichen 30 ECTS mit transdisziplinären und lösungsorientierten Kompetenzen.

Attila Pausits

„Es braucht eine echte Kompetenzentwicklung. Diese muss im Sinne des lebensbegleitenden Lernens in allen Bereichen passieren: von Kindergarten bis Erwachsenenbildung, von formaler bis informeller Bildung“

Attila Pausits

Auch das Thema Nachhaltigkeit im Sinne der Development Goals der Vereinten Nationen (SDGs) sei hier verankert worden. „Denn Probleme werden immer komplexer“, sagt Nikolai Neumayer und zählt globale Pandemien, intransparente Lieferketten und Kriegsgeschehen vor Europas Haustür als Beispiele auf, „daher wollen wir den Werkzeugkoffer der Studierenden mit Handlungsmöglichkeiten befüllen, um zukünftig Lösungsansätze finden zu können“.

Skills für ungewisse Zukunft

Auch Thomas Pfeffer begrüßt grundsätzlich die Kompetenzorientierung: „Man kann immer weniger sagen, welches Wissen in Zukunft gebraucht wird. Generische Fähigkeiten zu vermitteln, wird wichtiger“. Doch reiche es nicht, Kompetenzen als neue Lernziele zu definieren. Es bedarf auch neuer, geeigneter Methoden, um das Erreichen der Lernergebnisse zu überprüfen.

Pfeffer bringt dazu ein plakatives Beispiel. Zu Beginn des Jahrtausends wurde in Großbritannien ein Gesetz verabschiedet, das Energie-Zertifikate als verbindliche Voraussetzung für den Handel mit Immobilien einführte. Problem dabei: Es gab nur wenige Expert_innen, die diese ausstellen konnten. Normalerweise hätte man wohl auf den Input fokussiert, also Bildungsangebote entwickelt, um so die Zahl an Expert_innen zu erhöhen. Dies hätte die Umsetzung des Gesetzes jedoch zu lange verzögert. Man konzentrierte sich daher auf das zu erreichende Lernergebnis: Wer in der Lage ist, gegenüber schon etablierten Expert_innen die eigenen Kompetenzen anhand von fünf selbst erstellten Energie-Zertifikaten glaubhaft darzustellen, erhält selbst die offizielle Berechtigung, als Expert_in aufzutreten. „Dieses Beispiel zeigt eine idealtypische Orientierung an einem klar benennbaren und vor allem überprüfbaren Lernergebnis. Es inspiriert dazu, Bildungsangebote stärker vom Ende her zu denken, ausgehend vom angestrebten Kompetenzziel und seiner Überprüfung“, so Pfeffer.

Lebenslanges Lernen

„Es braucht eine echte Kompetenzentwicklung. Diese muss im Sinne des lebenslangen Lernens in allen Bereichen passieren: von Kindergarten bis Erwachsenenbildung, von formaler bis informeller Bildung“, meint Attila Pausits, Leiter des Departments für Hochschulforschung. Momentan orientiere man sich stark am Homo oeconomicus, also an konkreten Fertigkeiten, die am Arbeitsmarkt in bestimmten Berufen gefordert sind. Pausits wünscht sich in Zukunft individualisierte, stärker auf den jeweiligen Studierenden bezogene Curricula: „Ich bin auch selbst verantwortlich für meine Kompetenzen, das ist nun nicht mehr nur der Kindergarten, die Schule oder meine Professorin“.

Dazu brauche es auch einen Kulturwandel, den Attila Pausits in Österreich noch nicht sieht. Das Thema Bildung werde hierzulande schnell mit negativen Konnotationen verbunden. „Bildung ist immer in eine entsprechende Gesellschaft eingebettet“, gibt Pausits zu bedenken. Wesentlich sei das Vertrauen in Bildung, denn Misstrauen schaffe Trägheit. Dieses Vertrauen sei in anderen Ländern etablierter.

Finnlands Future Skills

Jussi Kivistö von der Universität Tampere in Finnland bestätigt den Stellenwert von Bildung in dem skandinavischen Land, das verlässlich auf Top-Plätzen in internationalen Bildungsrankings wie PISA liegt. An den Lehrplänen seiner Universität beobachtet auch er die Tendenz, mehr generische Inhalte zu vermitteln. Zu den Lernzielen der Universität Tampere, die sich in den einzelnen Curricula in unterschiedlicher Intensität finden, zählen: kritisches Denken, Ethik, Arbeitsmarktfähigkeit, Informationstechnologie und digitale Kompetenz, Kommunikation sowie globale soziale Verantwortung. „Hier spiegeln sich auch die SDGs wider“, erklärt Kivistö, „das war die Grundidee der Lehrplanüberarbeitung“.

Die Realität sei aber auch in Finnland, dass an den Universitäten immer noch der Übergang von Wissensinput zu mehr Kompetenzoutput geübt werde. „Es braucht ein Umdenken, auch bei der älteren Generation“, sagt der Hochschulforscher. Und das geschehe nicht zufällig oder von selbst. Daher sei es gut, wenn diese Dinge von der nationalen und auch der europäischen Ebene vorangetrieben werden. Denn: „Wir sollten alle für die Zukunft gewappnet sein“, schließt Jussi Kivistö.

Nikolai Neumayer

„Wir haben den Bachelor als Chance gesehen und überlegt: Wie können wir das bisherige Lehrangebot noch besser an gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen unserer Zeit anpassen?“

Nikolai Neumayer

Wissenswertes

Die acht Schlüsselkompetenzen für Lebenslanges Lernen

  • Lese- und Schreibkompetenz
  • Mehrsprachenkompetenz
  • mathematische Kompetenz und Kompetenz in Naturwissenschaften, Informatik und Technik
  • digitale Kompetenz
  • persönliche, soziale und Lernkompetenz
  • Bürgerkompetenz
  • unternehmerische Kompetenz
  • Kulturbewusstsein und kulturelle Ausdrucksfähigkeit

Quelle: Empfehlung des Europäischen Rats (2018/C 189/01)


JUSSI KIVISTÖ
Univ.-Prof. Jussi Kivistö lehrt an der Management und Business-Fakultät der Universität Tampere in Finnland. Seine Forschungsschwerpunkte sind Hochschulmanagement sowie Hochschulpolitik. Er leitete zahlreiche internationale Forschungsprojekte in diesem Bereich.

NIKOLAI NEUMAYER
Mag. Dr. Nikolai Neumayer ist stellvertretender Departmentleiter sowie Lehrgangsleiter am Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement der Universität für Weiterbildung Krems. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Lean Management, Prozessmanagement sowie Qualitätsmanagement.

ATTILA PAUSITS
Univ.-Prof. Dkfm. Dr. habil Attila Pausits ist Leiter des Departments für Hochschulforschung der Universität für Weiterbildung Krems. Zu seinen Schwerpunkten zählen Führung und Management von Hochschulen, Weiterbildungsmanagement, Real Time Hochschule und Student Relationship Management.

THOMAS PFEFFER
Mag. Dr. Thomas Pfeffer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für technologiegestütztes Lernen und Bildungsinformationssysteme der Universität für Weiterbildung Krems.

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