11.01.2021

Die Niederösterreichische Landesverfassung, wie wir sie heute kennen, ist am 1. Jänner 1979 in Kraft getreten. Bis dahin galt im Wesentlichen die vom 30. November 1920 vom Landtag von Niederösterreich-Land beschlossene Verfassung. Mit dem B-VG 1920, das nach der Reinen Rechtslehre den österreichischen Bundesstaat konstituiert,1 wurde der Trennungsprozess von Niederösterreich und Wien eingeleitet und per 1. Jänner 1922 mit den selbst- ständigen Bundesländern Wien und Niederösterreich abgeschlossen. Die Landesverfassung 1979 trat als moderne Landesverfassung in Kraft und gilt als Meilenstein der demokratischen Entwicklung in Niederösterreich. So wurde die Möglichkeit mehr direkter Demokratie für Landesbürgerinnen und Landesbürger verwirklicht. Diese konnten nunmehr an der Gesetzgebung und an der Vollziehung durch das Initiativrecht, das Einspruchsverfahren, das Beschwerderecht und durch Eingaben an den Landtag teilnehmen. Der innovative Charakter des Niederösterreichischen Landtags wurde mit seinem Beschluss vom 2. Juli 2020 unterstrichen: Der Landtag führte als einer der ersten im deutschsprachigen Raum die Möglichkeit ein, vollständige Ausschusssitzungen im Wege von Videokonferenzen abhalten zu können.2 Damit wurde die Handlungsfähigkeit des Landtags in Krisensituationen wie COVID-19 gestärkt, aber auch Möglichkeiten über die Krise hinausgehend geschaffen, wie die Zuschaltung von Fachexperten zu Ausschüssen.

Im Jahr 2013 wurde die Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der österreichischen und deutschen Landesparlamente und des Südtiroler Landtags in Krems unter Vorsitz des Präsidenten Ing. Hans Penz abgehalten. Im Rahmen dieser Konferenz entstand die Kremser Erklärung zum Thema „Parlamentarismus und Bürgerbeteiligung in der modernen Informationsgesellschaft“, die man heute noch mit respektablem Abstand als richtungsweisend bezeichnen kann. In diesem Sinne enthalten die folgenden Thesen einige Aspekte, die in den kommenden Jahren politisch diskutiert und aller Voraussicht nach auch reguliert werden müssen. Die <digitalen> und <analogen> (Grund-)Rechte wurden zugespitzt formuliert und stehen durchaus auch bewusst im Widerspruch. Das Präfix <digital> steht für Rechte in einer digital vernetzten Welt bzw. <analog> für Räume, die wir vielleicht bewusst auch nicht digital vermessen und vernetzen.

 

<digitales> Recht auf Redefreiheit für Maschinen

Inwiefern autonomen Objekten wie einem Fahrzeug oder einer Robotik-OP-Hilfe eine eigene Rechtspersönlichkeit zukommt, wird derzeit vor allem in Haftungs- und Zurechnungsfragen erörtert. Das Europäische Parlament hat zu dieser Frage im Jahr 2017 einen eigenen Rechtsstatus für Roboter diskutiert, sodass für die hochentwickelten autonomen Roboter der Status von elektronischen Personen festgelegt werden könnte. Im Fall eines Schadens durch eine autonome Handlung haftet die Maschine für ihre Entscheidung.

Daraus könnte abgleitet werden, dass autonomen Maschinen nicht nur Pflichten zukommen, sondern auch Rechte entstehen, womöglich auch verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte. In den USA wird diskutiert, ob Maschinen ein Recht auf Redefreiheit haben sollten. Das dort verfassungsrechtlich verankerte Recht auf freie Meinungsäußerung schützt die Rede und nicht primär den Redner. Damit ließe sich argumentieren, dass auch KI und Bots ein Recht auf freie Meinungsäußerung haben. Automatisierte Äußerungen von Bots auf Twitter und anderen Sozialen Medien, die unter anderem dafür genützt werden, sogenannte „fake news“ zu verbreiten, wären dann durch die Meinungsfreiheit geschützt.

Neben diesem rechtstheoretischen Diskurs besteht die Denkmöglichkeit, dass autonome Maschinen Bewusstsein entwickeln könnten. Davon sind wir derzeit aber noch weit entfernt – Roboter haben nach dem Stand der Technik kein Gewissen oder Emotionen. Denn: „Auch die aktuell klügste Maschine hat kein Bewusstsein, sie simuliert es nur“.3

 

<digitales> Recht auf algorithmische Entscheidung

Algorithmen sind – vereinfacht gesagt – als eindeutig festgelegte Verfahren bzw. Handlungsvorschriften zur Lösung von Problemen zu verstehen. Auch Anleitungen zum Aufbau von Möbeln oder Kochrezepte werden von dem weiten Begriff des „Algorithmus“ erfasst. Immer häufiger werden Algorithmen zur Klassifikation und Prognose von menschlichem Verhalten herangezogen. Vor allem in Bezug auf Qualität und Objektivität heben sich algorithmische Entscheidungssysteme von menschlichen Entscheidungen ab.

Algorithmen entscheiden nicht nur wesentlich schneller als Menschen, sie entscheiden auch rational. So wurde im Rahmen einer Studie belegt, dass Richter am Anfang eines Tages und nach der Mittagspause häufiger zugunsten von Angeklagten entscheiden. Mit der Zeit wurden diese „entscheidungsmüde“, positive Urteile nahmen ab und die Richter tendierten dazu, Bewährungsanträge abzulehnen und Straftäter in Haft zu lassen.4

Im Gegensatz zu Menschen, die unter Umständen mental ermüden, führen algorithmische Entscheidungsprozesse zu objektiven und gleichen Ergebnissen. Diese Art der Automatisierung eignet sich im Besonderen im Verwaltungsrecht für den Fall von gebundenen Entscheidungen, aber auch Ermessensentscheidungen können unter Umständen vermessen und somit automatisiert werden. Durch die gleichförmigen Entscheidungen kann die Rechtssicherheit durch den Schutz des Vertrauens auf Gleichbehandlung gestärkt werden. Der Rechtsschutz kann dabei erhöht werden, indem beispielsweise im Fall einer falschen Kalibrierung alle Entscheidungen innerhalb eines definierten Zeitraums geheilt werden.

 

<digitales> Recht auf antragslose automatisierte Entscheidungen

Antragslose Verfahren sind solche, die automationsunterstützt und ohne Antrag eingeleitet werden können, zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens. Dabei handelt es sich um einfache und antragsgebundene (Massen-)Verfahren, deren gesamter entscheidungsrelevanter Sachverhalt allein durch das automationsunterstützte Abrufen von Daten erhoben werden kann. Damit wird ein Tätigwerden des Antragstellers vorausgesetzt, obwohl von diesem oft nicht mehr als ein standardisierter Antragswortlaut zu erwarten ist.

Durch antragslose, automatisierte Verfahren kann auch eine soziale und inklusive Wirkung erreicht werden. Aktuell werden Sozialleistungen vielfach nicht beantragt, die Gründe dafür sind, dass Bürgerinnen und Bürgern die Leistungen nicht bekannt sind oder sie davon wissen, aber die Beantragung nicht durchführen können, oder dass sie davon wissen, aber aufgrund schlechter Erfahrungen mit Behörden keinen Antrag stellen. Antragslose voll- automatisierte Verfahren sind keine Zukunftsphantasie, sondern in Österreich seit 1. Mai 2015 mit der antragslosen Familienbeihilfe Realität. Nach der Geburt eines im Inland geborenen Kindes werden die Daten des Kindes sowie die Personenstandsdaten der Eltern durch das Standesamt im Zentralen Personenstandsregister erfasst; und automatisiert, ohne Beantragung durch die Mutter, an Sozialversicherung und Finanzamt weitergeleitet. Wenn alle notwendigen Daten korrekt vorliegen, erhalten die Eltern nicht nur ein Informationsschreiben über den Familienbeihilfenanspruch, sondern es erfolgt zeitgleich die Überweisung des Familienbeitrags auf ihr Konto.

Durch die konsequente Ablösung des Papiers durch digitale Abbildungen der Wirklichkeit in staatlichen Registern können zahlreiche weitere Verfahren antragslos und vollautomatisiert abgebildet werden, gerade im Sozialbereich können Verfahren durch einen einheitlichen Einkommens- oder Vermögensbegriff, welcher über Datenbanken berechnet wird, in Sekundenbruchteilen vollzogen werden.

 

<digitales> Recht als Programmcode für die vollautomatisierte Vollzugsmaschine

Im derzeitigen Gesetzgebungsverfahren spielt Digitalisierungspotenzial des Regelungsgegenstandes eine untergeordnete Rolle. Gesetzestexte sind nicht maschinenlesbar. Das ist mit einigen Nachteilen verbunden. So werden automatisierte Verfahrensabwicklungen erschwert oder unmöglich gemacht. Wird die spätere „Übersetzung“ von Gesetzestext in Softwarecode bereits bei der Erstellung von Gesetzen berücksichtigt, vereinfacht man die spätere automatisierte Verfahrenserledigung. Geht man einen Schritt weiter und beschließt der Landtag zugleich zum Text auch Programmcode und Ablaufdiagramme, werden Übersetzungsfehler zwischen Gesetz und Softwarecode vollends vermieden. Der Landtag beschließt digitale Gesetze.

Die Kombination aus digitalen Gesetzen, antragslosen Verfahren (vgl. dazu Recht auf antragslose automatisierte Entscheidungen) und hochqualitativen Daten aus staatlichen Registern transformieren den Staat zur vollautomatisierten Vollzugsmaschine.

 

<analoges> recht auf menschliche Entscheidung

Mit Algorithmen des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz kann z. B. eine Rückfälligkeitsvorhersage bei schon vorher straffällig gewordenen Personen getroffen werden. Computerprogramme wie COMPAS werden in den USA dazu bereits eingesetzt. Sieht man sich das System genauer an, wird augenscheinlich, dass Afroamerikaner eher fälschlich als krimineller eingeordnet werden als Weiße. Solche Systeme wecken Misstrauen in Menschen und können zu einer systematischen Diskriminierung führen. Die DSGVO versucht diesen Konflikt mit dem Eingreifen durch einen Menschen zu lösen, in Fällen wie automatischer Ablehnung eines Online-Kreditantrags oder Online-Bewerbungsverfahren ohne jegliches menschliche Eingreifen. Dies wird dadurch begründet, dass keiner einer automatisierten Entscheidung unterworfen sein sollte, die persönliche Aspekte einer Person bewertet. Aufgrund der Gefahr von Diskriminierung und Ausgrenzung ist es überlegenswert, ein Regime zu schaffen, welches über Art 22 DSGVO hinausgeht. Zu denken wäre hier an ein Grundrecht auf Entscheidung durch einen Menschen, neue Formen des Rechtsschutzes oder auch ein Verbot von Prognosesystemen für sensible Lebensbereiche. Schleswig-Holstein hat beispielsweise die digitale Privatsphäre verfassungsrechtlich verankert und damit eine Vorgabe für Abwägungsentscheidungen des einfachen Gesetzgebers zwischen Persönlichkeitsrecht auf der einen und Wirtschafts- und Unternehmerfreiheit auf der anderen Seite geschaffen. Eine weitere landesverfassungsrechtliche Vorschrift, die einen Aspekt der Digitalisierung beinhaltet, ist Art 12 Abs 1 Bremer Landesverfassung, wo es heißt: „Der Mensch steht höher als Technik und Maschine“.

 

<analoges> Recht auf technologiefreies Leben und Räume

In der Schweiz fordern SP-Politiker, das „Recht auf eine analoge Welt“ in der Bundesverfassung festzuschreiben. Derzeit wird dieses Thema vor allem in der Tourismusbrache unter dem Stichwort „Digital Detox“, quasi analogem Urlaub, besprochen. Einige wenige, auf Erholung spezialisierte Erholungsunternehmen versuchen ein neues Bedürfnis zu stillen, das sich in unserem digital dominierten Alltag stellt: abzuschalten. Dieses Konzept ließe sich auch in der Raumplanung berücksichtigen. So könnten regionale Identitäten und kulturelle Besonderheiten besonders gewürdigt werden, indem technologiefreie Regionen eingeführt werden. Diese bisher auf den Tourismus ausgerichteten Konzepte könnten aber auch auf das Leben erweitert werden und Räume schaffen, die ein <analoges> technologiefreies Leben ermöglichen.

 

<digital-analoger> Gesellschaftsvertrag für das digital vernetzte Zeitalter

Die vorliegenden Thesen enthalten Aspekte, die zur Diskussion anregen sollen, und stehen durchaus ganz bewusst in einem Spannungsverhältnis. Jetzt liegt es an Politik und Gesellschaft, einen digital-analogen Gesellschaftsvertrag zu verhandeln. Dies wird ein fortlaufender politischer Prozess, mit welchem wir unsere analoge und digitale Zukunft gestalten werden.


100 Jahre Landesverfassung "Reflexion und Herausforderungen"

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